liebetiger  - Das Buch

 

 

Wochenende

An den Wochenenden drehen wir unsere Runden durch die Gegend. Als es kälter wird diskutieren wir darüber, das Motorrad über die Wintermonate stillzulegen.
Er hat es bisher immer rausgeschoben, denn es könnten ja doch noch ein paar sonnige Tage kommen.
Ich schlage ihm vor eines dieser neuen Nummernschilder zu nehmen und das Motorrad im Frühjahr nur noch von April bis Oktober anzumelden. Das lehnt er ab, es könnten auch schon im März schöne Tage sein und vielleicht sogar noch im November, er sei ja nicht der liebe Gott und könne das nicht voraussehen.
Wir stehen in der Küche, denn Ingo hat während der Diskussion Hunger bekommen und schaut in den Kühlschrank. Nichts drin was ihm schmeckt. Er schaut in alle Vorratsfächer, aber nichts macht ihn an.
„Hast du denn nichts Gescheites zum Essen eingekauft“, will er wissen, „du hast doch gewusst, dass ich das Wochenende über da bin“, meint er.
„Ich mache dir einen Vorschlag“, sage ich, „bevor du hier jetzt lange rumnörgelst, nimmst du dein Moped und fährst den Berg runter in den Supermarkt und gehst Einkaufen.“
„Das ist ein Motorrad und kein Moped“, meint er, „und Einkaufen kann man mit dem Motorrad auch nicht.“
 „Und warum kann man mit dem Motorrad nicht Einkaufen?“, will ich wissen.
„Weil an dem Motorrad die Satteltaschen fehlen und ein Case ist auch nicht dran, so einfach ist das“, grinst er, „oder soll ich mir die Sachen unter den Helm stecken?“
„Nein, unter den Helm nicht, aber du könntest einen Rucksack mitnehmen“, erwidere ich.
Er sieht mich richtig entgeistert an und macht den Mund auf, dann wieder zu. Dann stützt er sich auf der Arbeitsplatte am Herd auf und sagt: „Das ist eine Enduro, da sitzt man nicht mit dem Rucksack drauf. Was würden denn die Leute denken.“
„Die würden denken, dass du im Supermarkt beim Einkaufen warst und sonst nichts“, sage ich.
Er macht wieder den Kühlschrank auf und fragt: „Kann ich von der Salami haben?“ „Ja, aber nicht alles“, rufe ich, denn ich bin inzwischen aus der Küche gegangen.
„Das ist aber nicht viel“, ruft er mir nach. „Das sind genau zweihundertfünfzig Gramm“, rufe ich zurück, „der Metzger hat’s abgewogen.“
Als ich zurück in die Küche komme, steht er mit dem Rücken zur Tür an der Arbeitsplatte vor dem Fenster und streicht sich anscheinend ein Brot.
Ich bleibe an der Tür stehen und betrachte ihn lange von hinten.
Groß ist er geworden, fast schon ein junger Mann. Breite Schultern, aber noch etwas Babyspeck an der Hüfte. Die Haare sind kurz geschnitten, fast wie Borsten. Ich weiß nicht, warum er sich die Haare immer so kurz schneiden lässt, mir würde ein bisschen länger viel besser gefallen.
Ich sehe ihn vor mir, wie er mit dem Motorrad fährt. Blauschwarz die Windjacke, schwarz die Hose, blau mit weißem Schriftzug das Motorrad, in Silber der Sturzhelm von Nolan.
Auf den ist er besonders stolz, der hat sogar eine Art Schiebedach, wo im Sommer die Luft rein kann.
So stehe ich im Türrahmen und schaue ihm zu. Er scheint mich nicht zu bemerken, schaut aus dem Küchenfenster auf das Nachbarhaus und isst sein Salamibrot.
Es ist ganz still in der Wohnung, nur im Flur hört man die Wanduhr ticken.
Und in diese Stille hinein sage ich leise: „Versprichst du mir etwas?“
„Was denn “, fragt er zurück ohne sich umzudrehen. Er muss doch gewusst haben, dass ich da stehe und ihn beobachte.
„Lass mich niemals zu deiner Beerdigung gehen müssen. Lass mich niemals an deinem Grab stehen müssen“, höre ich mich sagen.
Ingo dreht sich langsam zu mir um, schaut mich lange an und meint dann: „Wie kommst denn auf so was, red doch keinen Scheiß!“
Ich zucke mit den Schultern und sage langsam, fast traurig: „Ich weiß nicht, ist mir gerade so durch den Kopf gegangen.“

Dann will ich mich abwenden und aus der Küche gehen, denn ich kann die Situation nicht mehr ertragen.
Da macht er einen schnellen Schritt auf mich zu und hält mich am Arm fest.
„Ach Vatterle“, meint er und nimmt mich zärtlich in den Schwitzkasten, „mach' dir keine Sorgen, ich pass‘ schon auf.“
Ich boxe ihm leicht in die Magengegend und erwidere: „Ja, du schon, aber die anderen?“
So stehen wir stumm und hängen unseren Gedanken nach, dann schüttle ich seine Hand ab und gehe wortlos aus der Tür und in Richtung Badezimmer.
Er ruft mir nach: „Welche anderen?“
„Die anderen halt“, rufe ich zurück.
„Die passen auch auf“, lacht er, „versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.“
„Das hast du auch schon lange nicht mehr gesagt“, rufe ich aus dem Badezimmer.
 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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