liebetiger  - Das Buch

 

 

Kindergarten

Irgendwann ist er dann da, sein erster Kindergartentag.
Er will nicht hin.
Die anderen Kinder sind ihm unbekannt, denn es ist der Kindergarten einer anderen Stadt. Er wird hingebracht und abgeholt, aber er will nicht hin. Er kapselt sich ab, spielt dort nur alleine mit den Autos, spielt nie mit anderen Kindern.
Ich verbringe dort viel Zeit mit ihm. Bleibe da, spiele mit ihm und versuche für ihn Kontakt zu anderen Kindern herzustellen.
Es klappt nicht, er bleibt für sich allein und wenn ich gehen muss, dann sieht er mich an, sieht mir stumm nach mit seinen blauen Augen. Ich spüre seinen Blick im Rücken und mir bricht fast das Herz dabei.
Er wehrt sich nicht, er schreit nicht, er weint nicht, aber er leidet sehr.

Die Erzieherinnen und später die Psychologen meinen, er wäre ein ruhiges, aber etwas zurückgebliebenes Kind, das kaum spricht und keine Kontakte zu anderen Kindern aufnehmen kann oder will. Dabei ist er eigentlich nur vorsichtig, skeptisch und abwartend, solange bis sich ein anderes Kind für ihn und seine Welt interessiert.
Seine Freundschaft bekommt man nicht einfach geschenkt, sie muss man sich erst verdienen, man muss ihrer würdig sein.
Und diese Freundschaft entsteht dann doch noch, denn er freundet sich ausgerechnet mit dem Jungen an, der als größter Chaot und Rabauke im ganzen Kindergarten verschrieen ist. Er ist bei allen Kindergärtnerinnen gefürchtet. Mit niemand verträgt er sich, außer mit Ingo. Die Beiden verstehen sich gut, haben die gleiche Wellenlänge.
Sie können stundenlang miteinander spielen, ohne Streit,  ohne  Ärger,  ohne andere Kinder.
Aus dieser Kindergartenfreundschaft hätte sich sicher eine Freundschaft fürs ganze Leben entwickelt, wenn sie beide in der gleichen Ortschaft wohnen würden.
So aber wird Ingo jeden Morgen gegen neun Uhr im Kindergarten zur Aufbewahrung abgegeben.
Um die Mittagszeit holt ihn seine Mutter wieder ab und nimmt ihn mit in ihren Laden. Die Kunden müssen über ihn hinwegsteigen, wenn er mit seinen Autos am Boden herumkrabbelt und seinen geliebten „Autostau“ spielt.
Jahrelang geht das so. Sommer und Winter. Egal wie das Wetter draußen ist, Ingo verbringt seine zweistündige Kindergartenmittagspause auf dem Fußboden eines Ladengeschäftes in dem zeitgenössische Literatur verkauft wird.
Nach der Mittagspause wird er wieder in den Kindergarten entsorgt, drei Stunden später wieder abgeholt, um sein Spiel zwischen den Kundenbeinen bis nach Ladenschluss fortzusetzen.
Dann wird er ins Auto geladen, um nach einer knappen Stunde Fahrtzeit todmüde wieder zu Hause zu sein. Meist ist er auf der Rückfahrt eingeschlafen und muss zum Abendessen mühsam geweckt werden. Die abendliche Waschprozedur erlebt er schon nicht mehr bei vollem Bewusstsein, er nimmt sie nur noch apathisch hin.

Mehr als zwölf Stunden ist er zwischen Aufstehen und Sandmännchen täglich unterwegs.
Für jeden Arbeitnehmer mit einem solchen Arbeitstag hätten die Gewerkschaften zum Streik aufgerufen.
Warum gibt es eigentlich keine Gewerkschaft für Kinder?
 

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

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