liebetiger  - Das Buch

 

 

Rafting - Auf dem Inn

Dann setzt sich Rudi auch ins Boot und erklärt was wir tun werden und tun sollen, wenn wir nur mal erst im Wasser sind.
Er sagt, er muss das hier auf dem Trockenen tun, denn im Wasser hätte er keine Zeit mehr dazu.
Das kann ja lustig werden. Ingo sitzt mir gegenüber auf dem Gummiwulst des Bootes. Er hat einen leicht mulmigen Ausdruck im Gesicht. Ich sehe vermutlich auch nicht besser aus.
Rudi erklärt seine Kommandos und was wir dann tun sollen. Dann müssen wir das üben. Wir paddeln wie die Verrückten auf dem Trockenen. Mit rinnt der Schweiß in Bächen aus den Poren. Ich schwitze wie ein Schwein in dem Moltoprenanzug.
Vermutlich fange ich auch an so zu riechen.
Für einen zufällig vorbeikommenden Passanten muss unser Verhalten aussehen, als wäre uns der Fluss unter dem Boot abhanden gekommen.
Rudi sagt: „Der wichtigste Mann im Boot bin ich. Also, passt auf mich auf und seid lieb zu mir.“
Dann schaut er mich an und meint: „Wenn ich rausfallen sollte, werde ich versuchen mich an dir festzuhalten. Also, halt du dich fest, sonst fliegst du mit. Kannst du schwimmen?“
Ich nicke wortlos mit trockenem Mund. Plötzlich ist mir nicht mehr heiß, der Schweiß ist ganz kalt.
Dann schaut Rudi Ingo an und sagt zu ihm: „Du hast die wichtigste Aufgabe im ganzen Boot.“
Ingo schaut ihn erschrocken an.
„Du musst auf mein Paddel aufpassen. Wenn ich über Bord gehe und zurück zum Boot komme, weil der da mich wieder reinzieht“, dabei deutet er auf mich, „dann will ich von dir ein Paddel haben. Also, pass gut auf mein Paddel auf.“
Ingo scheint jetzt auch nicht mehr zu schwitzen.
„Also, auf geht’s, packen wir’s an“, ruft Rudi und springt aus dem Boot.
Wir schleppen das schwere Boot die letzten Meter bis zum Wasser.
Der Fluss bildet hier eine geschützte Bucht in der das Wasser sehr ruhig fließt, ja fast steht.
Weiter draußen sieht man die Stromschnellen mit ihrer weißen Gischt. Das Wasser ist grünblau und glasklar.
Die ersten Träger vorn am Bug haben das Wasser erreicht und sind teilweise mit den Füßen schon im Wasser. Abrupt bleiben sie stehen.
„Ach du Scheiße“, höre ich von vorne, „das ist ja arschkalt.“
„Ja, klar“, ruft Rudi von hinten, „das Wasser hat etwa fünf bis sieben Grad. Das kommt da oben aus den Bergen, da liegt noch Schnee. Das ist Schmelzwasser, oder habt ihr geglaubt ihr seid hier an der Adria?“
Rudi gibt Ingo und mir ein Zeichen, dass wir die anderen ins Wasser schieben sollen. Und das tun wir dann auch.
Von vorne hört man Fluchen und Geschrei.
Ingo und ich schieben was wir können und lachen uns halbtot.
Bis wir selbst ins Wasser kommen. Ingo verstummt schlagartig und will stehen bleiben. Er lässt die Halteleine vom Boot los und will zurück ans Ufer. Doch er hat nicht mit Rudi gerechnet. Der gibt ihm einen Schubs, Ingo fällt ins Wasser und geht gleich unter.
Mir läuft das eiskalte Wasser durch das Loch im Schuh. Ich will ebenfalls schnell wieder raus, doch auch ich habe nicht mit Rudi gerechnet. Oder besser mit seinem Paddel. Das habe ich plötzlich zwischen den Beinen und knalle der Länge nach hin.
„Nicht kneifen“, sagt Rudi, „jeder geht rein, du auch. Es ist besser jetzt und ihr wisst, wie kalt das Wasser ist, als später, wenn ihr aus dem Boot fliegt.“
Ingo ist aus dem Wasser hochgekommen, man sieht ihm den Kälteschock noch an. Mit offenem Mund und nach Luft japsend, hört er was Rudi zu mir sagt.
Dann stürzt er sich mit einem Jubelschrei auf mich, umklammert mich mit beiden Armen und reißt mich mit sich zusammen ins tiefe Wasser.
Mir nimmt es den Atem. Eiskaltes Wasser schlägt über mir zusammen und dringt durch jede, noch so kleine Ritze oder Öffnung zwischen Haut und Moltoprenanzug.
Schlagartig weg ist der Schweiß, das Schwitzen, die Hitze. Der Temperaturwechsel ist heftig, doch statt zu frieren ist es angenehm, etwas kühl ja, aber nicht so kalt wie ich gedacht hatte.
Wir tauchen wieder auf. Japsend und nach Luft ringend stehen sich Ingo und ich wie zwei Ringer auf der Matte gegenüber.
„Na Vatterle“, keucht er, „damit hast du wohl nicht gerechnet.“
„Wart’s nur ab, du alter Stinker, noch ist die Bootsfahrt nicht zu Ende, dich kriege ich auch noch dran“, stöhne ich, während mir das Wasser aus allen Ritzen zurück in den Fluss läuft.
„Ist das dein Sohn?“, will Rudi wissen. „Ja“, sage ich, nicht ohne Stolz, „das ist mein Sohn.“
„Feiner Kerl“, meint Rudi, „wir werden zusammen ein bisschen auf ihn aufpassen.“

Dann ruft er das Team zusammen. Wir klettern in das Boot und nehmen unsere Plätze ein.
„Die Füße in die Fußschlaufen und festhalten“, ruft Rudi, während er das Boot in die Strömung manövriert.
Urplötzlich nimmt das Boot Fahrt auf, schießt in die Strömung und wird von ihr mitgerissen. Hätte ich die Beine nicht in den Schlaufen gehabt, wäre ich glatt über Bord gegangen.
Wir rasen auf die erste Stromschnelle zu und sind schon durch, bevor wir richtig begreifen, was los ist.
Jubelgeschrei liegt in der Luft, während Rudi das Boot in ruhigeres Fahrwasser bringt.
„Das war erst der Vorgeschmack“, meint Rudi, „das ist unsere Hausstromschnelle, die für die Touristen. Weiter unten geht es dann aber erst richtig zur Sache.“
„Jetzt werden wir aber erst noch etwas Aussteigen und Einsteigen üben“, fährt er dann fort. „Jetzt schön der Reihe nach, einer nach dem anderen und du zuerst“, sagt er dann zu mir.
Ich bin etwas überrascht, denn normalerweise müssen Frauen und Kinder als erste über Bord.
„Bist du Raucher?“, fragt Rudi. „Nein, nicht mehr“, sage ich hoffnungsfroh auf einen Strohhalm am Horizont hoffend, „warum?
„Dann hätte ich so lange deine Zigaretten trocken gehalten“, meint Rudi und die anderen fangen an zu lachen.
Also lasse ich mich nach hinten über die Bordwand fallen und ergebe mich in mein Schicksal. Obwohl ich weiß, was auf mich zukommt, nimmt es mir wieder den Atem, lässt der Kälteschock das Herz stocken. Ich habe gelacht als Rudi am Ufer gefragt hat, ob jemand einen Herzschrittmacher trägt oder Herzprobleme hat. Da habe ich das für einen flotten Spruch zur Verbesserung der Betriebsklimas gehalten.
Jetzt, während das grünweiße Wasser über mir zusammenschlägt, kann ich mir gut vorstellen, dass einem da die Pumpe aussetzt.
Ich tauche wieder auf, doch das Boot ist nicht mehr da wo es war. Es ist jetzt ein paar Meter weiter weg. Ich habe keinen Grund unter den Füßen und muss schwimmen, wobei mir das Paddel im Weg ist.
Rudi muss Gedanken lesen können, denn er ruft mir zu „Du kannst ruhig untergehen, aber das Paddel brauchen wir noch. Denkt immer daran, egal was passiert, immer Paddel festhalten. So kann man euch auch besser finden, wenn ihr ertrunken seid.“
Ich habe das Boot erreicht und versuche die umlaufende Leine außen zu greifen. In der einen Hand halte ich das Paddel, mit der anderen Hand versuche ich die Leine zu erwischen. Dadurch kann ich nicht mehr schwimmen und gehe unter. Dann fährt mir das Boot über den Kopf, ich bringe den Kopf nicht aus dem Wasser, bin zu dicht am Boot, bzw. fast darunter.
Endlich wieder Licht und vor allem Luft über mir. Die anderen sitzen im Boot und schauen mir ruhig zu. Ich hab' das Paddel noch und schwimme wieder auf das Boot zu. Jetzt erwische ich die Leine und halte mich fest. Geschafft, nicht schlecht für das erste Mal.
„Ja, komm rein“, ruft Rudi, „oder willst du da draußen erfrieren? Du hast vielleicht fünf Minuten, höchstens sieben, bis du dich nicht mehr bewegen kannst.“
Verdammt noch mal, warum hilft mir denn keiner? Wie soll ich denn ins Boot kommen, wenn ich in der einen Hand das Paddel und in der anderen Hand die Halteleine habe?
Ich werfe das Paddel ins Boot. Es ist mir wurscht, ob es jemand trifft. Dann packe ich mit beiden Händen die Halteleine und tauche unter um mich abzustoßen. Wie ein Lachs an einer Stromschnelle schieße ich aus dem Wasser und versuche mich über den Bootsrand zu ziehen. Wie ein Wal, der sich ins seichte Wasser verschwommen hat, bleibe ich halb draußen, halb drinnen auf dem Bootsrand liegen.
Ich höre entfernten Applaus als ich dann kopfüber ins Boot falle, mich überschlage und zusammengekauert wie ein Embryo zwischen den Beinen der anderen liegen bleibe.
Mein Kopf liegt genau zwischen Ingo’s Beinen. Er beugt sich über mich und sagt: „Das haste gut gemacht Alterle, aber den Einstieg musst du noch etwas üben. Für die Kür gebe ich dir zehn Punkte, aber für die Haltung gibt’s Punktabzug.“
„Ich geb‘ dir gleich Punktabzug für das Alterle“, sage ich und krabble zurück zu meinem Sitzplatz.
Einer nach dem anderen, ohne Unterschied an Alter und Geschlecht, geht über Bord und schafft den Wiedereinstieg ins Boot.
Ingo ist der Letzte der dran glauben muss. Hoffentlich geht alles gut.
Als die Reihe an ihn kommt, lässt sich Ingo ebenfalls rückwärts aus dem Boot fallen. Er treibt etwas vom Boot weg, das durch sein Hinausfallen Fahrt auf genommen hat.
Ingo taucht einige Meter vom Boot entfernt wieder auf, das Paddel fest in der Hand und schwimmt ruhig auf das Boot zu. Packt die Halteleine, wirft sein Paddel ins Boot und zieht sich mit einer Leichtigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, ins Boot.
Er bekommt Applaus, wie alle, die den Einstieg geschafft haben. Er setzt sich wieder auf seinen Platz, steckt die Füße durch die Halteschlaufen und nimmt sein Paddel auf.
Dann schaut er mich an.
„Ich geb‘ dir zehn Punkte für die Kür und zehn Punkte für die Haltung“, sage ich und zeige mit dem Daumen nach oben.
Stolz steht in seinen Augen.
Erfolg ist wichtig für ihn hat Anita gesagt.
Während Rudi die Mannschaft zum leichten Paddeln auffordert, fällt mir eine Beschreibung ein, die eigentlich für die Werbung italienischer Pasta geschrieben wurde.
Sinngemäß stand da, dass Erfolg die Stimmung steigen lässt. Dahinter steckt ein komplizierter Mechanismus im menschlichen Körper. Die Hauptrolle spielt dabei die Aminosäure Tryptophan.
Die regt das menschliche Gehirn dazu an, den Gute-Laune-Stoff Serotonin auszuschütten.
Das ist eine komplizierte Erklärung für eine einfache Tatsache. Erfolg macht glücklich.
Ingo hat sich gerade eine große Dosis Serotonin reingezogen.
Das Boot wird unruhiger, die Geschwindigkeit höher, das schneller fließende Wasser lauter. Rudi muss schreien um sich verständlich zu machen.
In der Ferne hören wir dumpfes Grollen.
„Jetzt geht’s los“, schreit Rudi und ich bezweifle, dass man ihn vorne am Bug noch verstehen kann, „wer aussteigen will, muss es jetzt sagen, nachher ist es zu spät.“
„Wenn ich ‚Paddeln‘ rufe, dann paddelt ihr mit ganzer Kraft solange bis ich ‚Stop‘ rufe. Dann nehmt ihr das Paddel rein und haltet euch fest. Wer will kann auch noch ein schnelles Gebet sprechen“, schreit Rudi.
Der Bug des Bootes ist wie ein Aufzug, einsfuffzig hoch, einsfuffzig runter, macht zusammen drei Meter. Hoffentlich wird es da vorne keinem schlecht, er würde das ganze Boot vollkotzen.
Ich sehe nach Ingo. Er wirkt ganz ruhig, hat die Beine fest in den Halteschlaufen und konzentriert sich auf Rudi.
„Paddeln“, schreit Rudi. Und wir Paddeln uns die Seele aus dem Leib.
„Stop“, höre ich Rudi schreien.
Und dann schießt das Boot in die Stromschelle. Der Bug ist plötzlich fast zwei Meter über mir, Gischt schießt in das Boot, Wasser von allen Seiten.
Dann knallt der Bug nach unten. Ich spüre wie es mich hochhebt, wie es mir den Arsch von Boot abhebt. Ich stehe plötzlich im Boot, nur noch verbunden durch die Halteschlaufen in denen meine Füße stecken.
Das Paddel in der Hand stehe ich vor Ingo, als wollte ich ihn was fragen.
Er sieht mich mit großen Augen an, begreift nicht, dass ich nicht selbst aufgestanden bin, sondern aufgestanden wurde.
Dann bricht plötzlich eine Unmenge Wasser über mich herein, ich weiß nicht mehr wo oben und unten ist. Es schmettert mich zurück, ich spüre etwas weiches in meinem Rücken, mein Rückrat biegt sich nach hinten durch. Ich hänge über dem Bootsrand, mit dem Kopf nach außen. Ich ziehe die Zehen an, damit ich die Halteschlaufen nicht verliere. Meine Bauchmuskulatur versucht verzweifelt soviel Kraft zu entwickeln, um den Oberkörper wieder ins Boot zu bekommen.
Dann sehe ich Ingo auf mich zufliegen. Wie mich vorher, stellt es ihn auch auf, noch versucht er sich an der äußeren Halteleine festzuhalten. Ich sehe die Anstrengung und Verbissenheit in seinem Gesicht, mit der er sich gegen das aufbäumende Boot wehrt.
Dann schlägt ein großer Brecher über ihm zusammen und er verschwindet fast unter Wasser.
Wenn jetzt einer kotzt, wird es bestimmt keiner merken. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt und hat alle Hände voll zu tun, um nicht aus dem Boot zu fliegen.
Ich schaue zu Rudi. Er lacht und wischt sich mit einer Hand das Wasser aus dem Gesicht.
Er dreht das Boot geschickt und scheinbar ohne große Anstrengung ins ruhigere Wasser dicht am Ufer und ruft: „Zigarettenpause.“
Alle rappeln sich wieder auf. Manche hängen halb draußen, manche liegen am Boden im Boot.
„Hat jeder noch sein Paddel?“, will Rudi wissen.
Alle halten ihr Paddel hoch und schreien „Ja.“
„Mann, war das geil, ich hab' geglaubt, jetzt flieg‘ ich ab“, ruft Ingo zu mir herüber und fügt dann hinzu „was wolltest du denn auf meiner Seite, warum bist du denn aufgestanden?“
 „Ich bin nicht aufgestanden, ich bin aufgestanden worden“, rufe ich zurück, gleichzeitig merke ich, dass das Wassergetöse nicht mehr so laut ist. Ich hätte nicht schreien müssen. Ingo hätte mich auch so verstanden.
„Das war so geil, das ist sogar geiler als die Fahrt mit dem Z3 über unsere Lieblingsstraße“, sagt Ingo.
Rudi dreht sich eine Zigarette und hat die Unterhaltung mit angehört. „Was ist ein Z3“, will er wissen.
„Das ist ein Sportwagen von BMW, ein Roadster, ein Cabrio, ein echt heißes Teil, wenn man damit umgehen kann“, antwortet ihm Ingo, bevor ich irgend etwas sagen kann.
„Hast du einen Z3“, will Rudi jetzt von Ingo wissen. „Nein, ich nicht“, sagt Ingo, „er hat einen und er kann damit umgehen“ und deutet dabei mit dem Kopf auf mich.
Rudi sieht mich an, während er versucht seine selbstgedrehte Zigarette anzustecken.
„Ich glaub‘, ich hab' dich unterschätzt“, meint er.
Wie lassen uns seine Zigarettenlänge im ruhigen Wasser treiben. Rudi erzählt nebenher ein bisschen aus seinem Leben und seiner Liebe zum Wildwasserfahren. Eigentlich ist er Schlosser oder Mechaniker oder so was.
Aber sein Hobby ist das Rafting. In Kanada, Russland und Afrika ist er auch schon gewesen.
Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mit seiner Frau zusammen ist er österreichischer Meister im Wildwasserfahren geworden.
Jetzt sehe ich Rudi mit anderen Augen. Ich glaube ich habe ihn auch unterschätzt, als ich ihn für einen einfachen Tiroler Bergbauern gehalten habe.
„So Leute“, sagt Rudi, nachdem er seine Zigarette im Wasser gelöscht hat und die Kippe fein säuberlich in einer wasserdichten Folie verstaut und fährt dann fort: „Das war jetzt die Ouvertüre. Das war erst die Vorspeise. Das war noch gar nichts.“
„Jetzt geht es richtig los, jetzt ist Schluss mit lustig. Da unten wird es jetzt richtig ernst. Da ist eine Walze, neunfach hintereinander, Höhenunterschied jeweils neun Meter, Wassertiefe an manchen Stellen bis zu neun Meter, neun riesige Felsbrocken, die teilweise aus dem Wasser schauen, teilweise nicht, jeder etwa neun Meter Durchmesser. Jedes Jahr gibt es an dieser Stelle neun Tote. In diesem Jahr waren es erst vier. Wir wollen nicht hoffen, dass wir die Statistik verbessern.
Wenn ihr an der Stelle aus dem Boot fallen solltet, kann euch kein Mensch helfen, die Uferböschung ist dort über neun Meter hoch.
Nach der neunten Walze, ihr müsst also immer mitzählen, da kommt ein Wehr, mit einer Fallhöhe von neun Metern. Da ist auch ein Seil gespannt. Ihr müsst versuchen, dieses Seil zu erwischen. Es ist eure letzte Chance nicht über das Wehr zu stürzen.
Wenn es euch trotzdem über das Wehr haut, habt ihr etwa neun Meter freien Fall vor euch. Unten sind große Steine, da ist noch keiner lebend runtergekommen.
Aber ihr habt Glück, denn weiter unten sind Netze über den Fluss gespannt, da kann man dann eure Leichen aus dem Wasser ziehen.“
Es ist still geworden im Boot, betretenes Schweigen. Ingo starrt mich an, Besorgnis im Gesicht.
Rudi schaut sich im Boot um. „Noch Fragen?“, will er wissen.
Ich mache den Mund auf, aber bevor ich was sagen kann, fügt Rudi hinzu „und nicht vergessen, immer das Paddel festhalten.“
Dann fängt er an zu lachen. Er lacht uns in unsere betretenen Gesichter und lacht sich halb tot.
Rudi rutscht vom Bootsrand, sitzt auf dem Boden und lehnt sich mit dem Rücken an den Gummiwulst, der das Boot trägt.
Er hält sich den Bauch mit beiden Händen und krümmt sich vor Lachen.
„Rudi“, sage ich, „du bist ein Riesenarschloch.“
„Ich weiß“, sagt Rudi zwischen zwei Lachern.
Als die anderen auch langsam anfangen zu begreifen, dass Rudi uns total verarscht hat, kommt zögerliches Gelächter auf.
Rudi steht vom Boden auf, steht auf dem schwankenden Gummiboden und versucht sich nach seinem Paddel zu bücken.
Da hole ich mit meinem Paddel aus und stoße ihm das Ruderblatt in den Hintern. Er verliert das Gleichgewicht, dreht sich noch halb nach mir um und versucht  gleichzeitig sich an Ingo festzuhalten. Doch Ingo weicht aus und Rudi stürzt an ihm vorbei kopfüber ins eisige Wasser.
Als er wieder auftaucht rufe ich ihm zu „Rudi, du hast dein Paddel vergessen.“
Die Stimmung im Boot könnte nicht besser sein, als wir Rudi mit vereinten Kräften wieder ins Boot ziehen.
„Ihr seid echt ‘ne gute Mannschaft“, meint er, „und jetzt zeigt mir was ihr wirklich drauf habt.“
Er dreht das Boot mit einem Ruck in die Strömung, schreit „Paddeln“ und wir legen uns ins Zeug.
Es wird ein Höllenritt. Rudi jagt mit uns durch die Stromschnellen, dann durch die Walze. Er gönnt uns keine Ruhe. Dann wieder durch die Stromschnellen, diesmal seitlich, das macht er mit Absicht.
Dann, nach einer weiteren Walze, steuert er uns genau in einen Wirbel. Das Boot fängt an sich zu drehen und wird wieder zurück zur Walze gezogen. Von dort abgestoßen und wieder in den Wirbel geschickt.
Durch die schnelle Drehung des Bootes entsteht eine Fliehkraft, die uns alle nach außen aus dem Boot drückt.
Kurz bevor die ersten unfreiwillig das Boot verlassen beendet er das grausame Spiel und steuert das Boot gekonnt zu nächsten Sandbank.
„Pinkelpause“, ruft er noch und ist schon im Gebüsch am Ufer verschwunden.
Für die Herren unter uns, scheint es hier genügend Möglichkeiten zu geben. Die Damen aber sehen sich betreten an.
Da fällt mir ein, dass wir ja alle diese einteiligen Moltoprenanzüge tragen. Da muss man sich ja bis zum Oberschenkel freimachen um pinkeln zu können. Und das gilt für Männlein und Weiblein.
Einige andere sind anscheinend ebenfalls zu dieser Erkenntnis gelangt und sehen sich fragend an.
„Musst du?“, fragt mich Ingo. „Nöö“, sage ich und lasse mich gleichzeitig langsam über die Gummiwulst aus dem Boot ins Wasser gleiten.
Einige Schwimmstöße bringen mich weg vom Boot. Es ist zwar kalt, aber das bin ich jetzt ja schon gewöhnt. Ingo beobachtet mich vom Boot aus.
Einige andere stolpern über die Steine in Richtung Uferbewaldung.
Ich schwimme zum Boot zurück und hänge mich an die äußere Fangleine.
Ingo mustert mich genau.
Dann sagt er: „Du hast gepinkelt. Du hast ins Wasser gepinkelt. Du hast durch den Anzug durch ins Wasser gepinkelt.“
„Woher willst du das wissen“, frage ich.
„Ich seh’s an deinen Augen“, sagt er, „ich seh’s immer an deinen Augen, wenn du etwas angestellt hast.“
„Ich hab' nichts angestellt, ich habe auch nichts Verbotenes getan“, sage ich.
„Mach Platz“, sagt Ingo, „ich will auch mal ‘ne Runde schwimmen gehen“ und lässt sich neben mir ins Wasser gleiten.
So hängen wir zusammen ein bisschen außen am Boot herum.
Als ich laut sage: „Findest du nicht, dass das Wasser jetzt schon viel wärmer geworden ist?“, legt Ingo beschwörend den Finger an die Lippen und sagt leise „Pssst, ich bin noch nicht fertig, das geht nicht so einfach wenn das Wasser so kalt ist.“
Kurz bevor Rudi zurückkommt klettern wir wieder ins Boot. Die anderen nesteln an ihren Anzügen um den Reißverschluss wieder zu zubekommen. Bei einer jungen Dame hat sich das nasse T-Shirt im Reißverschluss verklemmt.
Rolf, der gutgebaute Trainer aus dem Sportstudio, bietet ihr sofort seine fachkundige Hilfe an.
Der Rest der Bootsfahrt verläuft gemütlich. Wir treiben unter Brücken hindurch und winken den Wanderern und Fußgängern.
Hinter einer Flussbiegung überraschen wir ein nackiges Pärchen beim Sonnenbaden. Rudi muss gewusst haben, dass es an dieser Stelle was zu sehen gibt, denn er gibt uns Zeichen ruhig zu sein, bevor er das Boot in Ufernähe um die Biegung steuert.
Gegen drei Uhr am Nachmittag legen wir wieder an. Wir schleppen das Boot wieder ans Ufer und räumen unsere Sachen auf.
Kloa zu Kloa, Middl zu Middl und XXL zu XXL, wie es sich gehört.
Wen stört es nach so einem Erlebnis noch, ob sein Schuh ein Loch hat oder nicht. Auch gleichfarbige Schuhe sind reichlich egal.
An die Umkleidekabinenordnung hält sich auch keiner mehr. Von hinten kann man außer dem Hintern sowieso nichts erkennen. Also, was soll’s.
Ingo hat sich ein Handtuch um die Hüfte gewickelt und sitzt auf der Bank.
„Was ist los?“, will ich wissen, „zieh dich an. Ich hab' Hunger und Durst.“
„Ich auch“, sagt Ingo, „aber ich habe ein Problem.“ „Was für ein Problem denn“, frage ich, während ich mich weiter anziehe.
„Ich habe keine trockene Unterhose mehr“, sagt Ingo lapidar und sehr laut.
„Soll ich dir eine leihen“, ruft von der anderen Scheunenseite jemand. „Nein, danke“, schreit Ingo zurück, „ich trag‘ nur meine eigenen, da kenn‘ ich nix.“
„Ist doch egal“, sage ich, „ziehst halt mal keine Unterhose an.“
„Das sieht man doch, dass ich keine Unterhose anhabe“, meint Ingo.
„Warum soll das jemand sehen“, will ich wissen.
„So halt“, murmelt Ingo jetzt gedrückt.
„Ach du meinst, man sieht an deinem bisschen Bieberle, dass du keine Unterhose anhast“, sage ich bewusst lauter.
„Habt ihr das Problem mit der Unterhose gelöst“, ruft jemand von der anderen Seite herüber, „hier ist ein Damenslip liegen geblieben, denn könnten wir euch rüberwerfen.“
Ingo murmelt irgendwas was wie „Arschloch“ klingt. Ich fange an zu lachen und sage: „Komm lass uns hier abhauen, sonst zwingen sie dich noch einen Büstenhalter anzuziehen.“
„Du bist auch ein Arschloch“, sagt Ingo und fängt auch an zu lachen.
„Komm wir rennen ganz schnell zum Auto, dann merkt keiner, dass du keine Unterhose anhast“, schlage ich vor. „Okay und du rennst voraus“, ergänzt er.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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