liebetiger  - Das Buch

 

 

Rafting - Der Flip

In den Sommerferien wollen wir wieder zum Rafting nach Tirol fahren. Ich schlage Ingo vor, dass er mit dem Motorrad fährt und ich mit dem Auto, aber das will er nicht. Es ist ihm noch zu weit.
Also fahren wir wieder mit dem Auto. Wir fahren auf direktem Weg, nicht so quer über’s Land wie letztes Jahr.
Wir sind in einem anderen Hotel untergebracht, nicht so gut wie das letzte, aber was soll’s.
Die nächste Enttäuschung gibt es im Rafting Camp. Rudi, unser uriger Bootsführer vom letzten Jahr, ist nicht mehr da.
Ingo ist enttäuscht und traurig. Er hätte ihn so gerne wiedergesehen und ihm von seinem Motorrad erzählt, er hat extra die Maschine noch vorher mit der Polaroidkamera aufgenommen.
Wir bekommen als Bootsführer einen Holländer zugeteilt. Erst später merken wir, dass wir ein kleines Boot für maximal sechs Personen bekommen. Nicht so ein großes für fünfzehn bis zwanzig wie letztes Jahr.
Der Grund ist, dass dem Holländer die Prüfung als Bootsführer abgenommen werden soll und da hat man sich für uns als Passagiere entschieden, weil wir ja den Inn schon einmal heruntergefahren sind.
Wir sind also nur zu fünft im Boot. Der Holländer und der kanadische Prüfer, der nur sehr schlecht Deutsch spricht. Und die drei Passagiere Ingo, Mike und ich.
Die Stimmung ist nicht so gut wie letztes Jahr. Der Holländer ist nervös, der Prüfer sagt kein Wort. Wir Passagiere warten, dass es endlich losgeht.
Dann schnappen wir das Boot und bringen es ins Wasser.
Der Holländer macht seine Einweisung und scheint dabei einige wichtige Sachen zu vergessen, denn er wird vom Prüfer korrigiert.
Das macht den Holländer nur noch nervöser. Wir paddeln los und während wir auf die erste Stromschnelle zuschießen, überlege ich mir, auf welchen Flüssen Holländer eigentlich Rafting trainieren können.
Wir kommen gut durch die Stromschnelle, aber irgendwie sieht der Fluss dieses Jahr anders aus. Ich erkenne fast nichts wieder, obwohl wir im gleichen Flussabschnitt sind. Dann fällt es mir auf, der Fluss hat viel mehr Wasser als im letzten Jahr und er fließt viel schneller.
Ja, das kann ja heiter werden.
Ingo sitzt neben Mike auf der anderen Seite des Bootes. Neben mir sitzt der kanadische Prüfer und hinten im Boot unser holländischer Prüfling, der zusehends fahriger und nervöser wird.
Ingo schaut mich mit einem mulmigen Ausdruck in den Augen an.
Ich teile seine Bedenken, denn die Diskussion zwischen Prüfer und Prüfling wird immer lauter. Es geht anscheinend um die richtige Ansteuerung der nächsten Walze, die da laut tosend auf uns zufliegt.
Rudi hätte jetzt bestimmt irgendwas mit neun Meter Gefälle gesagt. An Ingo‘s Augen sehe ich, dass er das gleiche denkt.
Wir fangen an zu paddeln, um das Boot richtig in der Strömung zu halten. Die erst Welle nimmt uns auf und plötzlich kommt Mike auf mich zugeflogen.
Er ist schlagartig direkt über mir. Ich sehe das ungläubige Entsetzen in seinem Gesicht. Er rammt mich mit seinem gesamten Körpergewicht, bevor er an mir vorbei in den Strudel stürzt.
Über mir schlagen die Wasser zusammen.
Ich verliere den Kontakt zum Boot.
Die Sicht ist grünlichgelbtrüb.
Unter Wasser ist es fast ruhig.
Ich versuche aufzutauchen, aber es geht nicht.
Irgend etwas ist über mir und irgend etwas zieht mich nach unten.
Ich strampele mit den Beinen und spüre die Kälte des Wassers.
„Wo ist Ingo?“, schießt es mir durch den Kopf. „Wo ist Ingo?“
Ich bekomme den Kopf immer noch nicht aus dem Wasser. Panik packt mich. Ich will nicht ertrinken, ich will nicht sterben, nicht in einem österreichischen Wildbach.
Wo ist Ingo? Ich muss Ingo finden. Ich muss an die Oberfläche um was zu sehen.
Ich drücke mit aller Kraft gegen die Last auf meinem Kopf, die mich unter Wasser hält und begreife jetzt, dass ich unter dem Boot bin.
Rudi fällt mir ein. Dieser österreichische Urtyp mit seinem furztrockenen Humor, fällt mir jetzt ein.
„Halt immer das Paddel fest“, hat er gesagt, „dann kann man deine Leiche besser finden.“
„Halt dich am Boot fest“, hat er gesagt, „wenn’s dich ausse haut.“
„Wenn’st unterm Boot bist und net ausse kannst, dann schwimm geg‘n den Strom und lass des Boot in Fließrichtung über dich weggleiten“, hat er gesagt.
Wo verdammt noch mal ist Fließrichtung? Ich seh nix, ich hör nix, ich weiß nur, dass ich unterm Boot bin.
Wo sind die anderen? Verdammt noch mal, wo ist Ingo?
Ich habe ihn umgebracht, er ist tot, er ist ertrunken, das Wasser hat ihn in die Tiefe gerissen. Er treibt hier irgendwo rum. Mit offenen starren Augen treibt er hier irgendwo rum.
Er hat bestimmt das Paddel in der Hand und lässt es nicht los, genauso wie Rudi es ihm gesagt hat.
Ich muss nur das Paddel finden. Ich muss das Paddel finden. Dann finde ich Ingo.
Panik packt mich. Ich stemme mich gegen die Strömung und drücke gleichzeitig gegen das Boot über mir.
Es klappt. Ich bin ein Stückchen weiter zum Rand gekommen. Noch mal. Es klappt wirklich, Rudi hat Recht. Ich muss nur das Boot hoch drücken, dann wird es vom Wasser in Stromrichtung über mich hinweg geschoben. So komm' ich raus, so komm' ich zu Ingo.
Ingo ich komme, ich komme dich retten, Halt durch, halt das Paddel fest. Lass nicht los, bitte, bitte, bitte lass das Paddel nicht los.
Mit aller Kraft stemme ich das Boot noch mal hoch, es wird mir fast aus den Händen gerissen, so stark ist die Strömung.
Da ist der Bootsrand, noch einmal drücken und dann unter dem Bootsrand durch ans Licht.
Plötzlich gleißendes Sonnenlicht und ohrenbetäubender Lärm des brodelnden Wassers. Ich bin raus, ich bin raus. Jetzt das Boot und das Paddel festhalten.
Wo ist Ingo? Verdammt noch mal, wo ist Ingo? Ich sehe vor mir die Bootswand, genau vor meinem Gesicht und drehe mich um. Sehe das Ufer, den Wald und die Büsche, aber keine Menschenseele. Weit und breit niemand zu sehen.
„Ich bin der einzige Überlebende“, fährt es mir durch den Kopf.
Rudi hat keine Witze gemacht, als er gesagt hat, „Vier Tote hamma des Jahr scho ghabt, fünfe fehlen noch, dann passt’s wieder mit der Statistik.“
Ich strampele mit den Beinen, halte Boot und Paddel fest und schaue mich noch mal um.
Da drüben am Ufer scheint irgendwas zu liegen, was farbiges, das da nicht hingehört. Ich kann aber nicht erkennen was es ist.
Was hatte Ingo für eine Jacke an? Gelb oder blau? Scheiße, ich weiß es nicht mehr. Wonach soll ich jetzt suchen? Soll ich um Hilfe rufen? Aber bei dem Lärm hört mich in dieser einsamen Gegend doch sowieso kein Mensch.
Ich stecke den Kopf unter Wasser und versuche irgendwas zu erkennen. Aber das ist aussichtslos, in dieser gelbgrünen, aufgewühlten Brühe irgend etwas zu sehen.
Ingo ist tot! Ich habe ihn getötet! Durch meine Schuld ist er gestorben! Er war noch so jung, er war mein bester Freund und ich habe ihn umgebracht!
Was soll ich jetzt noch hier. Was soll ich jetzt noch auf dieser Welt. Ohne ihn. Er war das letzte was mir noch geblieben ist. Ich will nicht ohne ihn leben. Ich wollte ihm helfen groß zu werden und selbständig.
Ich wollte ihm helfen sich langsam von mir zu trennen. Ich wollte ihm nachsehen, wenn er weggeht, wollte ihn aus der Ferne beobachten und mich freuen, wenn es ihm gut geht und ihm helfen, wenn es ihm schlecht geht.
Jetzt ist er weggegangen, ganz schnell, wortlos ohne Abschied. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Ich kann ihm nicht nachsehen, ich weiß nicht wo er ist. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich fühle mich so allein, so schrecklich allein.
Meine linke Hand lässt die Leine los. Das Paddel halte ich fest, damit sie meine Leiche besser finden können. Ich möchte neben Ingo begraben werden.
Ingo mach' Platz, halt mir den Platz neben dir frei. Halt ihn mir frei, wie meinen Platz im Eishockeystadion.
Ich treibe etwas vom Boot weg, gehe aber nicht unter. Ich muss die Schwimmweste ausziehen und fange an, an den Verschlüssen herumzureißen.
Etwas trifft mich am Kopf.
Ich habe es genau gespürt, wie etwas gegen meinen Helm schlägt. Da trifft es mich noch mal. Diesmal hat es richtig weh getan.
Ich drehe mich um und sehe den kanadischen Bootsführer auf dem gekenterten Boot knien. Er schlägt mit seinem Paddel nach mir.
Er muss wohl auch schon gerufen haben, aber bei dem Getöse und Gezische habe ich es nicht gehört.
Er deutet mit dem rechten Daumen nach oben, will wissen ob bei mir alles okay ist. Ich winke zurück, ich bin zwar am Leben, aber okay ist das noch lange nicht.
Jetzt hebt er die Hand nochmals und spreizt alle fünf Finger ab.
Dann zeigt er auf mich und hebt den Daumen.
Dann zeigt er auf sich und hebt den Zeigefinger dazu.
Er will mir etwas sagen, das verstehe ich. Wir sind zu zweit übriggeblieben, er und ich, Zeigefinger und Daumen.
Dann spreizt er wieder die Hand mit allen fünf Fingern und deutet hinter sich, hinter das Boot, dahin wo ich nicht sehen kann.
Ich verstehe nicht was er mir sagen will, er hält mir sein Paddel hin, damit ich mich daran festhalten kann und zieht mich dann zum Boot. Er hat überhaupt keine Panik, er ist ganz ruhig und handelt ganz überlegt.
So benimmt sich kein Bootsführer, der gerade seine Mannschaft in den Tod gesteuert hat.
Da dreht sich das Boot langsam um die eigene Achse und ich sehe sie auf der anderen Seite nebeneinander hängen. Der Holländer, Mike und Ingo.
Sie lachen, Ingo lacht. Ein bisschen unsicher zwar, aber sie lachen.
Ihr Arschlöcher, mir einen solchen Schrecken einzujagen. Hängen da die ganze Zeit auf der anderen Seite vom Boot, halten ihre Paddel fest und machen keinen Pieps.
Und ich wäre allein auf der anderen Seite fast ertrunken.
Ich weiß nicht, ob ich jetzt schimpfen oder lachen soll.

Wir richten das Boot auf und ziehen uns gegenseitig wieder hinein. Es ist alles gutgegangen, aber mit Rudi wäre uns das nicht passiert.
Der Holländer darf nicht mehr ans Ruder. Vermutlich ist er durch die Prüfung gefallen.
Geschieht ihm aber recht.
Kein Mitleid.
So ein Trottel. Jagt uns quer in die erste Walze. Da muss sich das Boot ja aufstellen und umkippen.
Diese Holländer, diese Flachwassermatrosen soll man halt nicht auf österreichische Gebirgsbäche lassen.
Die sollen zu Hause bleiben und Tulpen züchten, Käse herstellen und ihre Wohnwagen in der Gegend rumfahren.
Ich jedenfalls werde in der Zukunft um jeden Holländer in der Nähe eines Schlauchbootes einen Riesenbogen machen.
Nach dem Anlegen kommt der Chef des Rafting- Camps auf uns zu und merkt an der Stimmung, dass etwas nicht stimmt.
„Na wie war’s“, fragt er vorsichtig. Einer schaut den anderen an, sollen wir jetzt den Holländer in die Pfanne hauen?
Keiner macht den Mund auf, also mach’s ich.
„Wir sind gekentert, schon an der ersten Walze, alle Mann sind aus dem Boot geflogen“, sage ich.
„An Flip hoabt’s ghoabt?“, meint der Chef, „na servas.“ Er sieht den Holländer und den Kanadier an und wartet auf eine Erklärung.
Die drucksen noch etwas herum, dann sagt der Kanadier: „Yes, only a little one, not dangerous !“
„Waaas“, sage ich, „only a little one?! Not dangerous?! Ich kann auch englisch. Du hast ja wohl einen Vollvogel. You’re joking !“ und tippe mir an die Stirn.
Und bevor ich wutentbrannt in die Umkleidekabine verschwinde, richte ich den ausgestreckten Arm und den ausgestreckten Zeigefinger auf den Holländer, der plötzlich dasteht wie vor einem Erschießungskommando und rufe laut, so dass es jeder hören kann: „Beware of this guy, he’s extremely dangerous.“
Ingo kommt mir in die Umkleidekabine nach und fragt: „Was hast du da zum Schluss gesagt. Ich hab' das nicht verstanden.“
Ich drehe mich um, noch immer ganz außer mir: „Du hast doch Englisch in der Schule gehabt?“
„Ja schon“, sagt Ingo, „aber du hast so geschrieen, dass ich kein Wort verstanden habe.“
„Hast du denn keine Angst gehabt?“, will ich wissen. „Doch schon“, sagt er dann und legt den Kopf gegen meine Schulter, „um dich!“
So bleiben wir eine ganze Weile im dämmrigen Halbdunkel der Scheune sitzen und hängen unseren Gedanken nach, was wäre wenn... gewesen.
Keiner spricht ein Wort, sondern genießt die Ruhe und die körperliche Nähe des Anderen.
Dann erscheint Mike in der Türöffnung und sagt: „Wir sollen ins Office zum Chef kommen. Er gibt auf den Schrecken hin einen aus.“
„Der Holländer müsste eigentlich einen ausgeben, aber das kenne ich schon aus dem Berufsleben: Dutch people, deep pockets.“
Ingo lacht, „das habe ich jetzt verstanden.“
Es wird noch ein lustiger Nachmittag, aber ich merke dass Ingo mich immer wieder ansieht und mich heimlich beobachtet. Mir geht es genauso.
 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

Oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten

 

 

 

oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten

 

a

 

oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten