liebetiger  - Das Buch

 

 

Eishockey

Es ist ein Sonntag im Januar als wir uns zum ersten Mal auf den Weg zum Eisstadion machen.
Wir finden das Stadion auf Anhieb, wie mehrere tausend anderer Menschen auch.
Es herrscht ein fürchterliches Gedrängel. Ingo und ich haben keine Ahnung, wo wir hin müssen und lassen uns einfach mittreiben. Wir haben sowieso Stehplatz ohne Platzreservierung.
Wir scheinen die einzigen Normalen in einer riesigen Horde Verrückter zu sein. Alle sind verkleidet, tragen teilweise mehrere Trikots mit den Rückennummern ihrer Lieblingsspieler am Leib, eines mit den Ärmeln um die Hüfte gebunden, nach hinten hängend bis runter zur Wade, eines über die dicke Daunenjacke gezogen. Manche sehen aus wie abgebundene Leberwürste in Vereinsfarben.
Selbst die Kinder und Kleinstkinder sind maskiert, die Gesichter angemalt wie beim Karneval.
Das ist ja schlimmer wie beim Fußball!
Es scheint nur eine einzige Kleidergröße zu geben. Super XXL.
Endlich erwischen wir ein freies Plätzchen und bleiben an einem Geländer stehen. Rechts und links von uns drängen sich die Menschen. Vor und hinter uns stehen auch noch ein paar. Aber komischerweise nicht so viele.
Später wird mir klar warum. Man kann von unserem Platz aus das gegnerische Tor nicht sehen, weil so ein blöder Stützpfeiler für die Halle dazwischen steht.
Die Halle ist offen, hat zwar ein Dach damit es nicht aufs Eis regnet, aber es gibt keine Wände, der Wind pfeift durch und natürlich gibt es keine Heizung.
Jetzt wird mir auch klar warum die Leute so dick angezogen sind. Das Spiel findet praktisch im Freien statt.
Ich schaue mich ein bisschen im Stadion um, das sich jetzt sehr rasch füllt.
Viele Leute haben Styroporblöcke und –platten in den Vereinsfarben dabei.
„Was machen die damit?“, frage ich Ingo. „Die stellen sich drauf, damit sie besser sehen können“, gibt er zurück und kann es dann nicht lassen noch hinzuzufügen, „das brauchen nur die abgesägten Riesen, wie du einer bist.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, antworte ich zweifelnd und deute auf den Mann, der genau vor mir eine Stadionstufe tiefer steht, denn der ist jetzt schon so groß wie ich und hat außerdem noch einen Styroporwürfel mit etwa zwanzig Zentimeter Seitenlänge neben sich liegen.
Das kann ja heiter werden.
„Wie lange dauert beim Eishockey eigentlich eine Halbzeit“, frage ich Ingo.
„Beim Eishockey gibt es keine Halbzeit“, antwortet er.
„Warum, machen die keine Pause und keinen Seitenwechsel?“, will ich wissen.
„Doch, natürlich machen die Pause, sogar zweimal, darum gibt es keine Halbzeit sondern Drittel“, belehrt mich Ingo.
„Und wie lange dauert ein Drittel?“, frage ich weiter, denn man sollte schon ein bisschen was über eine Sportveranstaltung wissen, die man durch sein Eintrittsgeld mitfinanziert hat.
„Ein Drittel dauert zwanzig Minuten“, erklärt Ingo weiter und fügt hinzu, „reine Spielzeit.“
„Was heißt das: Reine Spielzeit“, will ich weiter wissen.
„Mensch du hast ja wirklich gar keine Ahnung von Eishockey“, empört sich Ingo.
„Ja, stimmt, deshalb habe ich dich ja mitgenommen, damit du mir alles erklären kannst“, sage ich.
Ingo verdreht die Augen und knufft mich in die Seite.
Dann meint er: „Reine Spielzeit heißt, dass die Uhr angehalten wird, wenn der Schiedsrichter ein Foul gepfiffen hat.“
„Dann dauert ein Eishockeyspiel ja länger als nur dreimal zwanzig Minuten und die Drittelpausen zusammen“, rechne ich mir laut aus.
„Ja, genau“, sagt Ingo, „viel länger.“
Jetzt stoße ich ihn in die Seite und sage:
„Sag mal spinnst du, weißt du was du deinem alten Vater antust. Es ist jetzt noch eine Stunde bis zum Anpfiff und wir stehen hier, weil wir sonst keinen Platz mehr bekommen hätten. Dann dauert das Spiel mindestens achtzig Minuten, aber nur wenn es überhaupt kein Foul gibt. Bis wir aus dem Stadion wieder rauskommen vergehen bestimmt noch einmal fünfzehn bis zwanzig Minuten. Die Lufttemperatur beträgt jetzt etwa fünf Grad. Der Betonboden unter mir ist bestimmt kaum wärmer als die Eisfläche. Ich habe italienische Schuhe mit Ledersohlen an und dünne Socken, die nicht sehr auftragen. Außerdem trage ich noch eine kurze, dünne Baumwollunterhose und kein Unterhemd. Ich habe keine Handschuhe und keinen Schal.
Bis zum voraussichtlichen Spielende bin ich bestimmt erfroren oder habe mir zumindest bleibende gesundheitliche Schäden zugezogen.“
„Oh Vatterle“, meint Ingo, „du bist ein echter Quälgeist. Ich hol dir jetzt einen Glühwein zum aufwärmen. Und wenn ich später meine Stadionzeitung ausgelesen habe, kannst die sie als Isoliermatte für deine Füße verwenden.“
„Mein Gott“, gebe ich zurück, falte die frierenden Hände und schlage die Augen auf zum Himmel, „welch eine Wohltat, welch grandiose soziale Leistung. Wodurch habe ich mir all diese Fürsorge verdient?“
„Ohne mich wärst du nicht hier“, sagt Ingo, „und ich nicht ohne dich.“
Dann haut er mir eine in die Seite und sagt: „Halt mir den Platz frei, ich hoffe dass ich dich in dem Gedränge wieder finde. Wenn nicht, treffen wir uns nach Spielende bei Lost and Found.“
Dann drängt er sich an mir vorbei und verschwindet in der Menschenmenge. Ich kann ihn noch eine Zeit lang sehen, wir er sich die Stadionstufen hochkämpft. Doch dann verliere ich ihn aus den Augen.
Wie er mich in dem Gewühle wieder finden will, ist mir ein Rätsel.

In der nächsten halben Stunde verteidige ich verbissen Ingo’s Stehplatz. Ich mache mich breit, stelle die Ellenbogen, strecke den Hintern heraus. Von allen Seiten wird angegriffen. Manche fragen, ob da noch Platz ist, andere stellen sich da einfach hin und gucken mich dann frech an. Andere, besonders Kinder kommen unten rum einfach durchgekrabbelt und scheinen dann plötzlich aus dem freien Stehplatz herauszuwachsen.
Ab und zu, wenn das Platzverteidungsgeplänkel gerade mal etwas nachgelassen hat, versuche ich in der Menge Ingo zu finden um ihm Handzeichen zu geben. Es ist aussichtslos. Nichts zu sehen.
Ich werde wohl mein Leben damit beenden, einsam in einem Eisstadion zu erfrieren oder von den Massen erdrückt zu werden.
Und wenn der Mann vor mir auch noch auf seinen Styroporwürfel steigt, kann ich noch nicht einmal die Spieler sehen, bevor ich sterbe.
So habe ich mir mein Lebensende wahrlich nicht vorgestellt.
Dafür habe ich auch noch fünfundzwanzig Mark Eintritt und Versandkosten für die Tickets bezahlt.
Halt, Moment mal. Ich habe für zwei Tickets je fünfundzwanzig Mark bezahlt, das sind ja zusammen fünfzig.
Und da versucht schon wieder einer sich auf den von mir bezahlten Platz zu stellen.
Jetzt reicht’s mir aber.
Kampflos gibt ein Schwabe nicht auf. Ich sehe schon die Schlagzeile in der Bildzeitung.
„Tot im Stadion. Wackerer Schwabe bei Kampf um Stehplatz erschlagen.“
„Himmel, Arsch und Zwirn, jetzt reicht es mir aber. Dieser Platz ist nicht frei“, schnauze ich meinen neuen Möchtegernnachbar an und ramme ihm gleich mal meinen Ellenbogen in die Seite.
„Verdammt noch mal, pass doch auf, jetzt hast du mir das halbe Cola über die Jacke geschüttet“, sagt Ingo neben mir.
„Gott sei Dank, dass du wieder da bist, lange hätte ich das nicht mehr durchgestanden“, sage ich erleichtert.
„Na, du hattest es doch einfach“, meint Ingo, „du bist ja nur hier rumgestanden und hast in der Gegend rumgeguckt. Was meinst du was ich hinter mir habe?“
„Wo ist mein Glühwein?“, will ich wissen.
„Der Verkauf von Alkohol an Jugendliche unter achtzehn Jahre ist im Stadion untersagt“, erklärt mir Ingo, „ich habe dir statt dessen ein Cola mitgebracht. Aber das musstest du mir ja gleich über die Jacke gießen.“
„Dann hol ich mir jetzt eben selber einen Glühwein“, sage ich kampfeslustig.
Ingo schaut mich mitleidig an und meint „Vergiss es, jetzt hast du keine Chance mehr bis zum Kiosk zu kommen.“
„Und wenn ich jetzt auf die Toilette muss?“, will ich wissen.
Ingo schaut mich noch mitleidiger an und sagt dann mit einem zynischen Grinsen im Gesicht „Vergiss es.“
Und als Nachsatz hängt er noch dran: „Ich war schon.“
Ja das kann ja heiter werden.
Irgendwann geht das Spiel los. Der Mann vor mir steigt nicht auf seinen Styroporwürfel. Er hat den Platz für seinen kleinen Sohn freigehalten, der kurz vor Spielbeginn zusammen mit der Mama eintrifft.
Also kann ich ein bisschen was sehen. Meine Blase verhält sich auch ruhig, vermutlich deshalb, weil ich das Cola nicht trinke. Ingo übernimmt das statt dessen.
Plötzlich reißen die Zuschauer alle die Hände hoch und schreien auf. Der Lärm ist unbeschreiblich.
Ich hab zwar nicht gesehen was passiert ist, aber ich mach‘ vorsichtshalber mit.
„Was ist los, was ist passiert“, will ich von Ingo wissen und schreie ihm ins Ohr.
Er beugt sich zu mir herunter und schreit mir ins Ohr: „Ein geiles Tor, ein absolut geiles Tor, phantastisch wie er das gemacht hat, einfach Spitze. Hast du gesehen wie er den Verteidiger verladen hat?“
„Wer hat ein Tor geschossen?“, schreie ich zurück.
Ingo sieht mich entgeistert an, macht mit der Hand eine wegwerfende Bewegung und wendet sich wieder dem Spielgeschehen zu.
Es ist schon beschissen, wenn einem Teil der deutschen Bevölkerung der Zugang zu Informationen nur wegen ihrer Körpergröße verwehrt ist.
Ich hätte ja auch einen Styroporwürfel mit ins Stadion nehmen können. Aber darf man so große Styroporwürfel überhaupt mitbringen?
Irgendwann ist Pause. Die Zuschauer setzen sich hin und jetzt kann ich auch die Eisfläche wieder sehen, nur sind jetzt keine Spieler mehr drauf, sondern nur die Eismaschinen, die die zerschundene Eisfläche wieder reparieren.
„Und wie war’s?“, will ich von Ingo wissen, der sich ebenfalls auf die Stufen gesetzt hat.
„Zwei null“, gibt er zufrieden zurück, „die hauen wir in den Sack. Die bringen hier kein Bein auf den Boden. Hast du Jackson Penney gesehen? Der macht ein geiles Spiel. Ich bin mir sicher, der haut denen noch ein paar solcher Dinger rein. Die Stimmung hier ist einfach gigantisch. Ich hab' das ja schon im Fernsehen gesehen, aber da kommt das so gar nicht rüber. Guck dir die Leute an, ich find' das Klasse, da sind ganze Familien mit ihren Kindern, auch Oma und Opa sind dabei. Alle in Fankleidung. Ich brauche auch unbedingt ein Trikot. Und einen Schal. Vielleicht auch eine Mütze. Guck mal die da, die mit den Adleraugen vorne dran. Die sieht doch geil aus. Sieht’s du dort drüben auf der anderen Seite der Tribüne, da wo die Kids stehen. Da hat einer sogar eine Adlerfigur auf der Mütze. Ja das ist ja geil, der kann sogar über eine Schnur mit den Flügeln schlagen.“
Ingo ist ganz aus dem Häuschen, so emotional engagiert und aufgewühlt habe ich ihn noch nie gesehen. Er redet und redet. Erzählt von den Spielern, von den Mannschaften, von Tabellenständen, von Spielregeln, von Fouls, von Bodychecks, Bully’s und Pucks.
Ich stehe auf der mir zu Isolationszwecken großzügig überlassenen Stadionzeitung und versuche auszurechnen, ob bei gleichbleibender Steiggeschwindigkeit der Eiseskälte in meinen Beinen, eine Unterkühlung meines Hirns bis zum Spielende unvermeidbar oder nur wahrscheinlich ist.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

Oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten

 

 

 

oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten

 

a

 

oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten