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liebetiger - Das Buch

     

Der Tod eines Kindes bringt etwas in Unordnung

Niemand hat vorher daran gedacht, oder es für möglich gehalten.
Eher schien der eigene Tod wahrscheinlich, noch wahrscheinlicher der Tod der Eltern.
Zuerst die Alten, dann erst die Jungen.
In der Gedankenlosigkeit unserer Gesellschaft wird der Tod, und sein kleiner Bruder, der Unfall, gerne vergessen. Ja, in den Medien, in Romanen, in Film und Fernsehen, da spielt er eine wichtige Rolle. Kaum eine Handlung, kaum eine Nachrichtensendung,  kommt ohne die Beiden aus.
Aber im wirklichen Leben erwischt der Tod immer nur die anderen, Unfälle passieren nur auf der Gegenfahrspur, oder weit weg in fremden Ländern.

Warum ist das so?
Die Erklärung ist ganz einfach. Der Tod macht stumm, der Unfall krank. Niemand ist gerne tot. Niemand ist gerne krank. Die Betroffenen schweigen.
Die Toten sind tot. Die wirklich Kranken und Behinderten haben Besseres zu tun als mit ihren Leiden in die Öffentlichkeit zu gehen.

Der Tod eines Kindes bringt die biologische Reihenfolge des Sterbens durcheinander.
Erst Oma und Opa, dann Mama und Papa und dann erst die Kinder.
Durch den Tod der Eltern verliert man Teile seiner Vergangenheit, durch den eigenen Tod verliert man sein Leben, doch durch den Tod eines Kindes verliert man Teile seiner eigenen Zukunft und muss weiterleben.
Hinzu kommen oft Zweifel und Vorwürfe, am Tode des Kindes Mitschuld zu haben, versagt zu haben, den Unfall nicht verhindert, die Krankheit nicht erkannt zu haben, kein guter Vater oder gute Mutter zu sein.

Der Tod eines Kindes verändert das Leben seiner Eltern, fast noch stärker als es seine Geburt getan hat. Viele Partnerschaften zerbrechen am Tod eines Kindes, zumindest durchlaufen sie eine lange, tiefe Krise.

Dies alles geschieht stumm. Den Betroffenen hat es die Sprache verschlagen, ihnen fehlen die Worte und sie ziehen sich zurück in ihre Trauer, die bei Männern und Frauen vollkommen unterschiedlich ist.
Jedes Jahr sterben in der Bundesrepublik Deutschland etwa 5000 Kinder. Rein mathematisch betrifft das 10.000 Menschen. Jedes Jahr kommen neue verwaiste Eltern dazu.

Durch den Unfalltod meines Sohnes bin ich Teil dieser Bevölkerungsgruppe geworden, von deren Existenz ich bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatte. Ich verhielt mich anfangs so, wie unsere Gesellschaft es von einem trauernden Hinterbliebenen erwartet, der nach einer kurzen Phase der Trauer baldmöglichst wieder zur Tagesordnung übergeht. Ich zog mich in meine Trauer zurück und blieb stumm. Wenn ich doch versuchte über das Geschehene und meinen Sohn zu sprechen, weil es mich innerlich zerriss, dann schnürte es mir die Kehle zu. Meist versagte die Stimme, das Gesicht verzerrte sich zur Grimasse und ich wandte den Kopf ab, damit man meine Tränen nicht sah.

Weil mir die Sprache versagte und ich auch keine wohl überlegten Worte hatte, um meine Situation als verwaister Vater zu erklären, begann ich zu schreiben.
Zuerst nur für mich. Vom Schicksal gezwungen. Gegen den Schmerz und das eigene Vergessen.
Dann für meinen Sohn. Zur wehmütigen Erinnerung an meinen besten Freund.

Wie zur eigenen Therapie schrieb ich über Gedanken und Erinnerungen, die mich sonst zerfetzt hätten.
Gedanken, die mich nachts aus dem Schlaf rissen, schweißgebadet, mit rasendem Puls. Hochgeschreckt in panischer Angst, den ausgestoßenen Schrei noch halb auf den Lippen hängen. Orientierungslos, nur langsam erkennend, dass es wieder nur ein Traum war.

Was zuerst nur als loses, teilweise wirres Geschreibsel begann, bekam nach einigen Wochen eine neue Ausrichtung. Ich begriff, dass mein Leben eine dramatische Veränderung erfuhr, denn ich hatte nicht nur meinen Sohn, sondern auch einen Teil meiner geplanten Zukunft, verloren.

Mein Sohn Ingo würde nicht mehr wieder kommen; auch nicht zu Besuch.
Er würde sich nicht verlieben, irgendwann eine Familie gründen und mich in dieser Reihenfolge zum Großvater machen.
Nie würde ich Enkel haben, die auf meinen  Knien schaukeln, Opa zu mir sagen und einige Ferientage oder Wochenenden bei mir verbringen. Eine Schwiegertochter würde ich nie kennen und lieben lernen.
Und an meinem Grab würden keine Kinder stehen, selbstgepflückte Blumen bringen und um mich weinen.

Aus meinen Aufzeichnungen ist ein Buch geworden.
Ein Buch über einen Sohn und seinen Vater.
Man kann das Buch anfassen, es ist Realität gewordene Erinnerung.
Man kann es auch lesen. Man kann versuchen es zu verstehen, oder den Inhalt einfach vergessen und seine Existenz ignorieren.

Mir aber hat das Schreiben und die Arbeit am Buch geholfen, mit meiner nie endenden Trauer und der schmerzlichen Erinnerung an meinen Sohn Ingo weiter leben zu können.

Heute bin ich stark genug um anderen Menschen, anderen Betroffenen mit Rat und Tat helfen zu können.
Ich bin auch stark genug, um ohne zu Weinen über meinen Sohn sprechen zu können.
Dennoch gibt es Anlässe, bei denen mir die unkontrollierbare Erinnerung wie ein brennendes Schwert durch Rache und Kehle schneidet und salziges Wasser aus den Augen drückt.

Ich bin heute nicht mehr der Mensch, der ich vor Ingos Tod war.
So, wie mich seine Geburt verändert und zum Vater gemacht hat, veränderte mich sein sinnloser Tod und ließ mich als elterliche Waise, ohne meinen besten Freund zurück
Nicht nur ich habe mich verändert. Alles hat sich verändert. Nichts, aber auch gar nichts, ist gleichgeblieben.

Möge euch Gleiches erspart bleiben.

Das wünsche ich euch allen von ganzem Herzen.