liebetiger  - Das Buch

 

 

Am Grab

Als ich nach der Beerdigung zum ersten Mal alleine an seinem Grab stehe, bin ich wie gelähmt, mein ganzer Körper schmerzt, mir ist schlecht.
Ich bin erst spät am Abend hingegangen, um ganz sicher zu sein, dass ich niemanden begegne.

Ich möchte alleine sein.
Alleine mit ihm möchte ich sein, niemand sehen und niemand soll mich sehen.
Ich starre auf den Boden, versuche durch die Erde zu dringen und sehe ihn in seinem Sarg liegen, tief unten in der Erde.
Ich weiß ganz genau, wie er aussieht.
Die Augen geschlossen und die Unterlippe ein bisschen blutig, wie aufgebissen. Die Hände zusammengefaltet und sein Eishockeytrikot und die Mütze auf dem Schoß.
Ich sehe sein Gesicht ganz genau, jede Einzelheit. Den Flaum am Kinn und die Narbe an der Oberlippe.
Der Grabhügel ist mit Blumen überhäuft und ein einfaches Holzkreuz ist am oberen Ende in den Boden gesteckt. Darauf steht sein Geburtsjahr und das Jahr seines Todes. Gerade mal neunzehn Jahre und ein paar Monate ist er alt geworden. Viel zu wenig, viel zu kurz. Er hat doch noch gar nicht richtig gelebt.
„Hier ruht in Frieden“ steht da.
Wie kann man in Frieden ruhen, wenn man ungewollt sein Leben am Kühler eines Lastwagens beenden musste.
Auf der linken Seite des Querbalkens steht sein Vorname und auf der rechten Seite sein Nachname. Es ist auch mein Nachname. Was würde ich dafür geben, wenn auf der linken Seite auch mein Vorname stehen würde.
Wie gerne würde ich mit ihm tauschen.
Welcher Irrsinn, welch ein Unsinn, welch eine Verschwendung ist sein Tod.
Ich hab' doch schon gelebt, bin doch viel älter, warum hat der Tod nicht mich genommen?

Kränze und Schleifen liegen auf dem Grab.
Von Freunden, Verwandten, Bekannten, auch von seiner Mutter und seiner Schwester.
Ich habe ihm keine Blumen und keinen Kranz gebracht. Ich konnte ihm keinen bringen.
Ich habe keine Kraft dazu, kann nicht in einen Laden gehen und Blumen für meinen toten Sohn kaufen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir ganz elend. Meine Hände fangen an zu zittern, ich habe Muskelschmerzen und Salzwasser sickert mir aus den Augen und läuft langsam die Wangen herunter.
Eine Kerze habe ich mitgebracht, die will ich anzünden, damit er es nachts nicht so dunkel hat. Er ist doch noch ein halbes Kind, ich muss ihm helfen. Er kennt sich doch hier auf dem Friedhof gar nicht aus.
Ich knie‘ mich hin und zünde zwei, drei Streichhölzer verbrauchend, die Kerze an.
Dann kann ich nicht mehr aufstehen, es ist als würde meine ganze Kraft im Boden versickern, als würde mich der Boden aufsaugen.
Ich möchte mich hinlegen, da neben das Grab, meinen Kopf da wo sein Kopf ist.
Ich möchte ihn in den Arm nehmen, so wie ich ihn immer beim Fernsehen im Arm gehalten habe, wenn wir beide auf dem Teppich vor dem Fernsehapparat eingeschlafen sind.
Ich möchte ihn halten, bis er wieder aufwacht, bis er ausgeschlafen hat.
Will auf ihn aufpassen, dass ihm nichts passiert.
Der Schmerz wird unerträglich, er reißt an mir, dreht sich in mir.
Zum ersten Mal fange ich an zu begreifen, was Tod bedeutet.
Zum ersten Mal greift die furchtbare, grauenhafte Erkenntnis des „Nie Mehr“ nach mir.

Und dann höre ich mich plötzlich leise seinen Namen sagen und mir ist, als hätte er mich gehört.
Ich sehe es ganz deutlich vor mir. Er versucht langsam seinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der meine Stimme kam und darauf zu warten, dass ich noch mal seinen Namen sage. Er kennt diesen Klang meiner Stimme ganz genau, wenn ich morgens an seinem Bett stehe und mehrfach vergeblich versuche ihn zu wecken. Irgendwann zieht dann ein verstohlenes, zufriedenes Lächeln über sein Gesicht, wenn er sich lange genug schlafend gestellt hat.
Dieses Lächeln sehe ich jetzt auf seinem Gesicht.
Ingo ist gar nicht tot, er schläft nur, er war nur müde, ist nur vor dem Fernseher eingeschlafen.
Gleich wird er aufstehen, den Sargdeckel auf die Seite schieben, das Kreuz aus dem Boden ziehen, mich anschauen, so wie er mich immer angeschaut hat, wenn er mich hereingelegt hatte. Und dann wird er sagen „komm wir gehen jetzt, ich hab' Hunger.“
Ich höre diese Worte ganz deutlich, sehe Ingo neben mir stehen und auf mich herabsehen.
Ich stehe auf, versuche ihm mit der Hand durch die kurzgeschnittenen Haare zu fahren und er dreht wie immer ein bisschen unwillig den Kopf auf die Seite, um der Berührung auszuweichen, wie ein Boxer, der einem Schlag ausweicht. Gleichzeitig fasst er nach meiner Hand, zieht mich zu sich und legt mir den Arm um die Schulter.
Er ist größer als ich, darauf ist er sehr stolz.
So bleiben wir nebeneinander vor seinem Grab stehen, schauen auf das Holzkreuz und ich fange langsam an zu erzählen.

„Weißt du“, sage ich, „als ich dich zum ersten Mal sah, da hatten sie dir die Augen zugeklebt. Mit einer dieser komischen Mullbinden, die aussehen wie Damenbinden mittlerer Größe ohne Flügel. Darüber Klebeband, das beim Ablösen immer diese hässlichgrauen, ewigklebenden, wuzelnden Rückstände auf der Haut hinterlässt. Ich hatte Mitleid mit dir, du warst so ein kleiner Kerl, ganz nackig in dem Brutkasten. Da habe ich zum ersten Mal deinen Namen gerufen. Ganz leise und vorsichtig und du hast deinen Kopf gedreht und versucht herauszubekommen, wo meine Stimme herkommt. Krank bist du gewesen, wegen der Leukozyten, du hattest zu viele. Deshalb haben sie dich in die Universitätsklinik gefahren, mit Blaulicht und Sirene. Gerade noch rechtzeitig. Sonst wäre es vermutlich böse ausgegangen.“

„Du hättest damals sterben können.“

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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