Zum ersten Mal

Als ich ihn zum ersten Mal sehe, hat man ihm die Augen zugeklebt.
Mit einer dieser komischen Mullbinden, die aussehen wie Damenbinden mittlerer Größe ohne Flügel. Darüber Klebeband, das beim Ablösen immer diese hässlichgrauen, ewigklebenden, wuzelnden Rückstände auf der Haut hinterlässt.
Ich habe Mitleid mit ihm, mit diesem kleinen Kerl, wie er da so nackt in dem Brutkasten liegt. Den Bauchnabel noch dick und vorstehend, ebenfalls zugepappt mit Klebeband.
Er sieht aus wie ein Kind aus Afrika, vor Hunger aufgedunsen und trotzdem dünn und rachitisch. Nur dass seine Haut weiß ist, ja fast durchsichtig.
Als ich dann zum ersten Mal seinen Namen sage, ganz leise und vorsichtig, als könnte ich ihn aufwecken, da versucht er seinen Kopf langsam in meine Richtung zu drehen.
Er scheint zu horchen und auf eine Wiederholung seines Namens zu warten. Natürlich weiß er noch nicht, dass es sein Name ist, der Name den ich ihm gegeben habe,  den er gerade zum ersten Mal hört.
Es ist wohl eher der Klang meiner Stimme, den er in seiner künstlichen Dunkelheit und Stille vernimmt. Denn still ist es in dem Raum, in den man ihn in diesem kleinen Glaskasten gebracht hat.
Still und sehr hell durch das Licht, das ihm Leben bringen soll. Ganz weiß mit einem hohen Anteil an ultravioletten Strahlen. Die sollen ihm helfen, die Anzahl der weißen Blutkörperchen in seinem Blut zu senken. Denn diese Leukozyten hatten sich vermehrt und die Ärzte hatten es nicht sofort bemerkt. Vielleicht liegt das daran, dass gerade Karneval ist und die Ärzte sicher  an andere Dinge denken, als an die Anzahl der Leukozyten bei einem Neugeborenen.
Als sie merken, dass irgend etwas nicht stimmt, da ist es auch schon fast zu spät. Mit Blaulicht wird er in die Universitätsklinik gebracht und in dieses komische, helle Zimmer mit seinen Glaskästen gelegt.
Später wird es dann heißen, er hätte wohl bei der Geburt zu früh den Mund aufgemacht und Fruchtwasser geschluckt, wie ein Taucher, dem beim Auftauchen die Luft ausgeht und der nicht bis zur Wasseroberfläche durchhält. Vielleicht ist er aber auch nur ein bisschen ungeduldig gewesen und hat es nur nicht mehr erwarten können, endlich geboren zu werden.
Es ist ihm auf jeden Fall nicht gut bekommen. Vermutlich ist das dann auch der Grund, warum er später, selbst wenn er gefragt wird,  nie viel spricht. Er lässt den Mund lieber zu.

Mein Gott, wie tut er mir leid. Wie gerne würde ich ihn berühren, ihn aus diesem scheußlichen Kasten mit seinen Glaswänden nehmen, die Schläuche abmachen, die zu seinem Körper führen. Aber ich traue mich nicht, ich habe Angst etwas an ihm kaputt zu machen.
Also rufe ich noch einmal leise seinen Namen.

Innnngooooo.

Kurz soll sein Name sein und kein Buchstabe doppelt. Und schon gar nicht mit dem gleichen Buchstaben aufhören, mit dem der Nachname anfängt. Lange habe ich gesucht und viele Bücher, gescheite und saudumme, gelesen.
Streit hat es gegeben, denn seine Mutter will ihn nennen wie einen bayrischen Rauhaardackel, Bastian oder Wastl.
Mein Sohn kann von Glück sagen, dass ich ihm diese Schmach erspart habe.
Gestritten habe ich für ihn, gekämpft, nächtelang diskutiert und zum Schluss auch noch gelogen und betrogen.
Denn als seine Mutter abgeschafft von der Geburt, noch wehrlos und kampfunfähig in der Narkose liegt, da gebe ich der Hebamme seinen Namen.

Ingo.

Kurz und zackig, gut auch laut zu rufen. Kaum zu verhunzen oder zu verballhornen.
Ich kann ja nicht wissen, dass viele Jahre später ein französischer Autohersteller einen seiner Kleinwagen mit Glubschaugen nach ihm benennen wird. Der heißt dann Twingo und dabei werden in dieser Designerkatastrophe von Kleinwagen noch nicht einmal zwei ausgewachsene Leute zum Sitzen Platz finden. Von irgendwelchen anderen Dingen auf dem Rücksitz schon gar nicht zu reden.
Ja, und dann kommt noch dieser Trottel aus der Tankstellenwerbung, der Diesel statt Super tankt. Super Ingo, dieser Depp mit Cowboystiefeln, Bomberjacke und Elvistolle.
Doch das ist dann schon zu einer Zeit, wo sich mein Sohn selbst wehren kann, wenn es darauf ankommt.
Noch aber liegt er da, verschrumpelt und nackig, im ultraviolettem Licht des Inkubators und sucht mit blinden Augen nach meiner Stimme.

Mein Sohn Ingo.

Unendliche, nie gekannte Zärtlichkeit rinnt mir durch den Körper. Irgendwo in mir öffnet sich ein Damm und gibt unendlich warme, weiche Zärtlichkeit frei. Nicht erotisch oder sexuell, sondern fürsorglich, beschützend und väterlich.
Was ich zum Zeitpunkt seiner Zeugung nicht wusste, sofern ich mich überhaupt daran erinnern kann, das weiß ich jetzt.
Ich bin sein Vater und er ist mein Sohn. Ich bin für ihn verantwortlich solange ich lebe und über meinen eigenen Tod hinaus.
Noch einmal rufe ich leise seinen Namen. Er versucht den Kopf noch weiter in meine Richtung zu drehen, doch die Schläuche sind ihm im Weg.
Seine winzig kleinen Hände, mit den kleinen, kaum sichtbaren Fingernägeln greifen in die Luft, um diese Fesseln und Hemmnisse zu beseitigen. Doch seine Kraft reicht nicht aus.
Und ich bin zu feige ihm zu helfen.
Statt dessen rufe ich die Schwester, denn das Kind im nächsten Inkubator hat sich gerade fürchterlich in die Windel geschissen.

Wochen später darf ich ihn zum ersten Mal auf den Arm nehmen.
Da hatten ihn schon alle möglichen, mir völlig unbekannte Damen, auf den Armen getragen und an den Busen gedrückt. Mit viel Geschnatter und Getuschel und allen möglichen Vergleichen, wem der kleine, dünne Fratz wohl ähnlich sieht.
Erst als er schon etwas abgegriffen ist und die Kleidung einiger seiner Vergewaltigerinnen erfolgreich mit körpereigenen Ausscheidungen und Sekreten versaut hat, gibt man ihn gnädig an mich weiter.
Zum ersten Mal halte ich ihn im Arm, ungeschickt aber fürchterlich stolz, wie er da fast verschwindet in meiner Armbeuge.
Seine Augen sind offen, blau wie meine.
Er sieht mich wohl zum ersten Mal.
Aber als ich leise seinen Namen sage, da ist es mir, als sei ein Erkennen oder Erinnern auf seinem kleinen Gesicht zu sehen.


 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

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