liebetiger  - Das Buch

 

 

Weihnachten

Die Weihnachtsfeiertage vergehen wie im Flug.
Ich bin müde, schlafe lange aus und lass mich ein bisschen durchhängen.
Und dann kommt Ingo. Mit einer großen, neuen Sporttasche von Bayern München, lässig und stolz über die Schulter geworfen bezieht er wieder sein Zimmer. Die Tasche ist prallvoll, denn er bleibt ja bis zum Schulbeginn im Januar. Nur an Silvester muss er noch kurz weg. Aber am zweiten Januar kommt er wieder.
Er erzählt von seinen Geschenken, die er zu Weihnachten bekommen hat und lässt dabei keine Socke und keinen Handschuh aus. Die Tasche hat er bekommen und neue Kickstiefel und einen neuen Tacho fürs Fahrrad.
Er ist ganz aufgedreht und sagt dann ganz abrupt „ich hab' Hunger, was gibt’s zum Essen?“
„Fröhliche Weihnachten“ sage ich.
Er sieht mich an, steht auf, kommt auf mich zu, nimmt mich spielerisch in den Arm, fast in den Schwitzkasten, drückt mich leicht mit dem Arm und sagt „ich hab' dich lieb.“
Fast gleichzeitig fangen wir beide an zu weinen. Stehen wie zwei Catcher voreinander, als würde jeder versuchen, den besseren Griff anzusetzen und weinen vor uns hin.
Nie zuvor waren wir uns so nah. Nie zuvor haben wir uns unsere Gefühle so gezeigt.
Wir sehen uns nicht an, schauen jeder über die Schulter des anderen. Ich leichter als er, denn noch ist er etwas kleiner als ich. Er lehnt seinen Kopf leicht gegen meine Schulter, weicht nicht aus wie sonst, wenn wir uns zu nahe kommen.
Dann, nach einer kurzen Zeit der Stille, höre ich die geflüsterte Frage „was kriege ich denn von dir zu Weihnachten?“
„Wie kommst du denn darauf, dass du von mir was zu Weihnachten kriegst?“, sage ich bewusst provokativ und fühle, wie er sich aus der Umarmung löst.
„Komm mach' keinen Scheiß“, sagt er, „Kinder kriegen von ihren Eltern immer was zu Weihnachten geschenkt.“
„Nur die braven Kinder“, sage ich.
„Ich bin brav“, sagt er und packt mich fester, als wolle er mich schütteln und zur Vernunft bringen, „ich bin immer brav!“
„Nicht immer“, sage ich, „aber meistens. Und jetzt musst du halt suchen, nach deinen Weihnachtsgeschenken.“
„Suchen muss man an Ostern“, sagt er, „an Weihnachten liegt alles auf einem Haufen unter dem Weihnachtsbaum.“
Er lässt mich los und will rasch an mir vorbei ins Wohnzimmer.
„Ich habe keinen Weihnachtsbaum“, sage ich, „keinen Adventskranz und noch nicht einmal eine Kerze.“

Ingo weiß sofort worauf ich anspiele, denn vor einigen Jahren wäre uns zu Weihnachten beinahe das Haus über dem Kopf abgebrannt.
Der Adventskranz, übertrieben groß wie ein Wagenrad und mit vielen dicken Kerzen und Tannenzapfen dekoriert, fing an zu brennen.
Nach dem Kaffeetrinken am Nachmittag des Heiligen Abends ging jeder in der Familie seinen Weihnachtsvorbereitungen nach. Auf dem Esszimmertisch blieb der Adventskranz mit seinen brennenden Kerzen sich selbst überlassen.
Wenn Ingo den Brand nicht zufällig entdeckt und sofort um Hilfe gerufen hätte, wäre alles verbrannt.
Nicht nur, dass wir in einem Holzhaus lebten, auch die ganze Inneneinrichtung war aus Holz. Der Esstisch, natürlich aus deutscher Eiche, stand bereits in Flammen, ein Stuhl auch, und auf dem Teppichboden brannte das herunter gelaufene Wachs.
Hätten die Vorhänge auch noch Feuer gefangen, wäre es zu spät gewesen. So kamen unsere Löschmaßnahmen gerade noch rechtzeitig, um das Schlimmste zu verhindern.
Ja, wenn Ingo nicht gewesen wäre.

„Also, jetzt mal im Ernst“, meint er, „du hast keine Weihnachtsgeschenke für mich?“
„Wieso Geschenke“, sage ich, „das ist Mehrzahl, kann es nicht auch nur ein Geschenk sein?“
„Na ja, ausnahmsweise, weil du es bist“, meint er.
Ich nehme ihn ganz vorsichtig an den Schultern und drehe ihn langsam um. Da sieht er den Fernsehapparat auf dem Regal gegenüber von seinem Bett.
„Boooow, ist der für mich?“, fragt er.
„Nein, natürlich nicht, der ist für die Putzfrau, damit sie noch mehr zum Saubermachen hat“, sage ich.
„Boooow geil, da kann ich ja abends vom Bett aus fernsehen so viel und so lang ich will. Jetzt brauchst du mich nicht mehr ins Bett zu schicken nur weil ‘ne nicht jugendfreie Sendung im Fernsehen kommt.“
„Ich gucke keine nicht jugendfreien Sendungen im Fernsehen,  aber mich wundert, dass du weißt, dass es solche Sendungen gibt“, sage ich.
Darauf er: „Ich hab' Hunger, was gibt’s zu Essen?“
„Früher hat man 'danke' gesagt, wenn man etwas geschenkt bekam, das haben mir meine Eltern beigebracht“, sage ich.
„Da hast du ja noch einiges zu tun“, meint er und geht an mir vorbei in die Küche.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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