liebetiger  - Das Buch

 

 

Renate

Sie kommt nicht überraschend, zumindest nicht für mich.
Beruflich kenne ich sie schon einige Monate, privat ein paar Wochen.
Dann kommt sie zum ersten Mal auf Besuch.
Sie weiß von Ingo, sie weiß dass ich ein alleinerziehender Wochenendvater bin.
An einem Freitag, am späten Nachmittag trifft Ingo zum ersten Mal mit ihr zusammen. Oder eigentlich muss man sagen, er schrammt an ihr vorbei.
Er klingelt an der Tür, denn er hat mal wieder den Schlüssel vergessen. Als ich öffne, sagt er „Hi“, stürmt an mir vorbei, öffnet die Tür zu seinem Zimmer und wirft die Sporttasche hinein.
Ich steh' immer noch an der Wohnungstüre, die Klinke in der Hand.
Er ruft „ich hab' Hunger, was gibt’s zum Essen?“ und ist schon auf dem Weg in Richtung Küche, dann durch die Küche ins Esszimmer, sieht Renate am Tisch sitzen, kratzt wortlos und ohne die Geschwindigkeit zu mindern die Kurve in Richtung Wohnzimmer, um von dort über den Flur wieder in seinem Zimmer zu verschwinden und die Tür hinter sich zu schließen.
Renate schaut mich an und sagt „war er das?“
„Ja, das war er, wie er leibt und lebt!“, sage ich.
„Ist der immer so“, will Renate wissen.
Nein, natürlich ist er nicht immer so. Er ist nur so, wenn etwas Überraschendes, etwas Unvorhergesehenes passiert. Dann reagiert er wie eine Schnecke und zieht sich sofort in sein Schneckenhaus zurück.
Als ich die Tür zu Ingo’s Zimmer öffne liegt er angezogen auf dem Bett, die Sporttasche steht noch ungeöffnet auf dem Boden und der Fernseher läuft.
Bevor ich etwas sagen kann, kommt seine Frage auch schon angeflogen.
„Bleibt die da?“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „warum fragst du?“
„So halt“, sagt er und widmet sich wieder seinem Fernsehapparat.
Ich stehe in der Tür seines Zimmers und begreife, vielleicht etwas zu spät, dass es jetzt ein Problem gibt, oder genauer, dass ich jetzt ein sattes Problem habe.
Da haben sich gerade zwei Menschen getroffen, die nichts miteinander anfangen können und wollen.
Es war mein Fehler, ich hätte sie besser auf diese Situation vorbereiten müssen.
Woher sollte Renate, die nie verheiratet war und keine Kinder hat, wissen, wie ein fünfzehnjähriger Junge auf eine neue, unbekannte Frau in der Wohnung seines Vaters reagiert.
Wie sollte ein fünfzehnjähriger Junge, seelisch noch verkrüppelt durch die Scheidung der Eltern, gerade erst wieder auf dem Weg zur Normalisierung seiner Gefühle, denn wissen, wie er mit einer neuen, unbekannten Frau neben seinem Vater umgehen soll.
Was will diese Frau?
Warum ist sie da?
Will sie den Vater haben, wegnehmen, besitzen?
Jetzt wurde doch gerade erst seine Familie geteilt, geteilt in Mutter und Vater und Schwester. Er selbst wurde geteilt!
Wird jetzt noch mal geteilt?
Angst hat er!
Angst wieder zu verlieren!
Angst wieder teilen zu müssen!
Ich sehe ihn an und sehe die Angst an und in seinem Körper. Obwohl er anscheinend aufmerksam dem Geschehen auf dem Fernsehschirm folgt, sehe ich die Angst in seinem Gesicht und in seinen Augen.
Verlassen kommt er sich vor, ausgenutzt und weggeworfen.
Wertlos. Hilflos. Nutzlos. Machtlos. Ohnmächtig.
Und wütend.

„Tigi“, sage ich, „Renate ist nur eine Freundin.“
Keine Reaktion, er ignoriert mich.
Was soll ich jetzt machen?
„Tigi“, versuche ich es noch mal, fast flehend.
Soll ich jetzt meine Autorität als Vater ins Spiel werfen? Soll ich ihn jetzt zwingen Renate guten Tag zu sagen, ihr die Hand zu geben und einen Diener zu machen, weil anständig erzogene Kinder das tun?
Soll ich ihn einfach ignorieren, die Tür zu machen und warten, bis er sein Schneckenhaus von alleine verlässt?
Soll ich ihm (versuchen zu) erklären, dass Väter auch Männer sind und deshalb auch (manchmal) die Nähe zu Frauen suchen (müssen)?
Muss ich ihm das erklären? Ich habe ihn nie aufgeklärt und denke, dass jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt ist.
Ich entscheide mich in dieser Situation für die Rückkehr zur Normalität, denn mir ist klar geworden, dass Ingo derzeit keine Frau in der Nähe seines Vaters akzeptieren kann und will.
Ingo will keine Frau in der Wohnung, in seiner Wochenendwohnung. Er will keine Ersatzmutter und sein Vater braucht keine Ersatzfrau.
Während der Woche kann der Vater ja machen was er will, aber an den Wochenenden nicht. Wenn Ingo einen Spagat zwischen Mutter und Vater machen kann, dann wird der Vater das auch zwischen Sohn und Freundin machen können.
Damit ist die Basis für das Beziehungsgeflecht der nächsten Jahre definiert.
Ingo zwischen Mutter und Vater. Vater zwischen Ingo und Renate.
Aber nichts, aber auch gar nichts zwischen Vater und Sohn.
Nichts zwischen Ingo und mir.
„Renate fährt nachher nach Hause“, sage ich, „sie war nur zum Kaffee trinken da.“
Ingo dreht den Kopf und sieht mich an.
Es ist die gleiche Bewegung, mit der er damals im Inkubator nach meiner Stimme suchte. Misstrauen und Zweifel stehen in seinen Augen.
„Ja“, sage ich noch einmal, „sie ist nur zum Kaffee trinken vorbeigekommen.“
„Okay“, sagt er, „sag mir Bescheid wenn sie weg ist, denn ich hab' Hunger.“
Ich überlege krampfhaft, wie ich aus dieser verfahrenen Situation wieder herauskomme.
Ingo auf dem Bett, schmollend und verweigernd.
Renate im Esszimmer, wartend und vermutlich sauer.
Soll ich jetzt zu ihr gehen und sagen „es ist jetzt besser, wenn du gehst?“ Um dann Ingo zu melden „die Luft ist rein, du kannst jetzt rauskommen.“
Scheiß Situation, in die ich mich da reinmanövriert habe!
„Ruf mal schon beim Pizzadienst an“, sage ich, „ich frage mal was Renate essen will, bevor sie geht.“
So können wir wenigstens noch zusammen essen, geben wir uns noch eine letzte Chance, bevor wir wie erwachsene Menschen auseinandergehen.
Tatsächlich bestellt Ingo Pizza, seine und meine. Die für Renate muss ich selber nachbestellen, denn da hat er schon aufgelegt.
Damit sind die Fronten klar.
Ingo will nichts mit Renate zu tun haben, er ignoriert sie und kann damit auch leben. Für ihn ist wichtig, dass sich zwischen mir und ihm nichts ändert.
Für Renate ist die Situation auch klar. Der Kleine, wie sie Ingo bezeichnet, ist schlecht erzogen und gehört in ein Internat. Da wird man ihm seine Flausen und Macken schon austreiben.
Am besten in ein Internat, zu dem auch ein Pferdegestüt gehört, denn Renate mag Pferde.
Und jetzt fange ich an meinen Spagat zu machen. Zwischen Ingo, meinem Leben als Vater und Renate und meinem Leben als Mann.
Jeder einigermaßen normale Mensch kann sich vorstellen, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann. Doch diese Erkenntnis kommt mir erst später.
Mir ist klar, dass sich Ingo eines Tages von mir lösen muss und wird.
Spätestens dann, wenn ihm Mädchen wichtiger werden als Fußball.

Das ist ja auch gut so.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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