liebetiger  - Das Buch

 

 

Malediven

Carola und ich fliegen in den Urlaub auf die Malediven.
Jeden Tag frage ich meinen Anrufbeantworter in Deutschland ab. Jeden Tag zweimal. Einmal um die Mittagszeit, so nach dem Essen. Da ist es auf den Malediven etwa ein oder zwei Uhr und in Deutschland ist es noch vier Stunden früher, also etwa neun oder zehn Uhr morgens.
Das zweite Mal rufe ich dann vor dem Abendessen an, während Caro noch in unserem Freiluftbadezimmer herumwerkelt. Da ist es meist etwa zwanzig Uhr und in Deutschland etwa vier Uhr am Nachmittag.
Das Handy funktioniert nicht, ich bekomme keine Netzverbindung. Die Insel liegt zu weit südlich, etwa eine Flugstunde entfernt von der Inselhauptstadt Male.
Als ich Richtung Bett gehe, komme ich am Telefon vorbei. Eigentlich könnte ich ja gleich mal den Anrufbeantworter abfragen, bevor ich mich jetzt hinlege.
Ich nehme den Hörer und wähle meine Nummer in Deutschland. Es rattert ein paar mal; dann höre ich wie es in meinem Büro zu Hause klingelt. Vermutlich regnet es da jetzt in Strömen, denke ich mir schadenfroh, und hier sind dreißig Grad im Schatten.
„Guten Tag“, höre ich meinen Anrufbeantworter sagen. Ich tippe meine PIN ein und halte den Hörer wieder ans Ohr, mit den Augen beobachte ich Caro, die gerade ihre Fingernägel lackiert.
„Sie haben zwei neue Nachrichten“, sagt der Anrufbeantworter. Caro sieht mich fragend an und ich halte die Hand mit zwei Fingern hoch.
Ich rufe die erste Nachricht ab:
„Am zwölften fünften um neun Uhr zweiundvierzig“, sagt der Anrufbeantworter.
„Hallo, hier ist Klaus, dein Bruder. Ich bin in der Firma, ruf' mich bitte unbedingt zurück. Es ist etwas passiert. Ich muss mit dir sprechen. Die Rufnummer ist ......“
Caro sieht mich fragend an. Ich ziehe die Mundwinkel nach unten, zucke mit den Schultern und sage leise „mein Bruder.“
Dann höre ich die zweite Nachricht.
„Am zwölften fünften um zehn Uhr dreizehn“ höre ich und dann:
„Hallo, hier ist deine Tochter. Ingo ist tot. Er hatte einen Unfall mit dem Motorrad. Es ist schon alles geregelt. Du brauchst nicht zu kommen. Du kannst mich auf meinem Handy anrufen.“
Der Anrufbeantworter sagt „Sie haben keine weiteren Nachrichten.“

In mir ist kein Gefühl.
Ich bin wie erstarrt.
Sehe Caro auf dem Bett sitzen.
Sie merkt, dass irgend etwas nicht stimmt und schaut mich fragend an. Ich habe den Hörer in der Hand, aber ich kann ihn nicht auflegen.
Ich bin wie gelähmt, kann nicht denken, kann nicht sprechen, nur mein Herz schlägt noch und die Lunge beatmet mich, als wäre nichts geschehen.
Caro steht auf und kommt auf mich zu. „Was ist los“, fragt sie und noch mal „was ist los, was ist mit dir.“
Ich kann nicht sprechen, die Hand mit dem Telefonhörer zuckt. Die Nerven und Muskeln machen sich selbständig. Meine Knie geben nach, die Lippen zittern, Wasser schießt mir in die Augen und ein furchtbares Stöhnen quält sich aus meiner Kehle.
Der Raum vor mir verschwimmt, er dreht sich um mich. Ich halte mich am Tisch fest, den Telefonhörer noch immer in der Hand.
„Was ist“, ruft Caro, „sag doch was, was ist los. Was ist passiert?“
„Ingo ist tot“, höre ich mich sagen, „Ingo ist tot.“
„Oh mein Gott, ja wie denn? Was ist passiert“, will sie wissen.
„Ich weiß nicht, er hatte einen Unfall mit dem Motorrad“, schluchze ich.
Caro nimmt mir den Telefonhörer aus der Hand und legt die Arme um mich.
Ich fange an zu zittern, dann schüttelt es mich, dass sie mich festhalten muss. Und wieder ringt sich dieser Aufschrei aus mir, dieser furchtbare Schrei, in dem das ganze Elend, der ganze Schmerz liegt. Dieser Schrei kommt von ganz tief drinnen, er kommt langsam die Luftröhre hoch, füllt den Rachenraum und drückt dann mit brutalster Gewalt den Kiefer auseinander, verzerrt das Gesicht zur Fratze und dringt dann mit aller Gewalt ins Freie.
Dieser Schrei ist nicht das Ende, nein er ist erst der Anfang. Er ist ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommt. Doch er alleine ist schon schrecklicher als alles Schreckliche, was ein normaler Mensch je erlebt hat.
Dieser Schrei ist der Auftakt zur Ouvertüre, er ist nicht das Finale.
Denn es gibt kein Finale. Nie und niemals.
Aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Caro hält mich fest, damit ich nicht umfalle. Sie will mich zum Bett führen, damit ich mich hinsetzen kann.
Ich wehre ich. Ich will nicht. Ich will den Telefonhörer wieder haben. Ich will wissen, was passiert ist. Ich will wissen, wie es passiert ist. Und ich will wissen, dass es wirklich passiert ist.
Vielleicht ist das alles nur ein Scherz. Man will mich reinlegen, man will mich verarschen, hinters Licht führen. Das ist alles gar nicht wahr.
Ich muss meinen Bruder anrufen, dem kann ich trauen, der würde sich an einem solchen bösen Spiel nicht beteiligen.
Ich nehme Caro den Hörer aus der Hand, drücke sie auf die Seite. Weg vom Telefon, ich muss jetzt ans Telefon. Ich muss Ingo helfen, er braucht mich jetzt, aber erst muss ich wissen was los ist. Dann kann ich die Lage beurteilen und Entscheidungen treffen. Dann kann ich die Sache in den Griff kriegen, die Ursachen beseitigen und den alten Zustand wieder herstellen.
„Ingo ist tot“, dass ich nicht lache. Das wollen wir doch erst mal sehen.
Er kann gar nicht tot sein, das ist unmöglich.
Er fährt immer sehr vorsichtig und auch immer mit Licht.
Wahrscheinlich hatte er nur einen Unfall und das Motorrad ist kaputt.
Aber das ist doch scheißegal, dann kaufen wir halt ein neues.
Warum erzählt ihr mir dann so einen Scheiß?
Nur das Motorrad ist kaputt, Ingo ist im Krankenhaus, aber es ist ihm nicht viel passiert.
Nur ein paar Kratzer, ein paar Abschürfungen.
Ingo ist von der Schaukel gefallen, vom Fahrrad geflogen, vom Skateboard gestürzt und die Treppe hinuntergesegelt. Er hat immer nur ein paar Schmarren davon getragen, ein paar Narben zurückbehalten.
Warum sollte er jetzt bei einem Motorradunfall sterben?
Nicht der Anruf meiner Tochter macht mir zu schaffen. Die hat seit fünf Jahren nicht mit mir gesprochen, hat die Rechtsanwälte auf mich angesetzt, warum sollte sie mir jetzt die Wahrheit sagen.
Ich wähle die Geschäftsnummer meines Bruders. Wenn mir einer sagt, was wirklich los ist, dann ist es mein Bruder.
Ich höre es läuten.
Einmal. Komm geh ran.
Zweimal. Verdammt geh ran.
Dreimal. Wo ist er denn?
Viermal. Nimm ab, du kannst nicht bei mir anrufen und sagen ich soll dich zurückrufen und dann bist du nicht da.
Fünfmal. Nimm ab, unterbrich deine Besprechung. Wirf die Kerle aus dem Büro. Ich bin dran, dein Bruder und will dich sprechen.
Sechsmal. Heb endlich ab, du Arsch.
Siebenmal. Ich ertrage das Klingeln nicht mehr und lege den Hörer auf.
Caro sieht mich besorgt an. Ich bin aggressiv und wütend.
Jetzt rufe ich meinen Bruder zu Hause an. Es ist ja Freitag, schon Mittag in Deutschland, da ist der bestimmt schon nach Hause gefahren.
Es knackt in der Leitung und jemand hebt ab, bevor es richtig geklingelt hat. „Hallo“, sagt meine Schwägerin. „Hallo Hanna, ich bin‘s. Klaus hat mich angerufen, ich soll ihn zurückrufen wegen Ingo.“
„Ja ich weiß“, sagt sie, „Klaus ist noch in Firma. Er hat eine Geschäftsbesprechung die er nicht verschieben konnte, deshalb hat er mich angerufen, weil er sich gedacht hat, dass du dann hier anrufst.“
„Was ist passiert“, will ich wissen. „Ich weiß nichts Genaues“, sagt Hanna, „heute Morgen hat deine Tochter angerufen und wollte Klaus sprechen. Sie hat nicht gesagt um was es geht. Ich habe ihr die Nummer von Klaus in der Firma gegeben.
Da hat sie ihn dann angerufen und ihm gesagt, dass Ingo einen Unfall hatte und gestorben ist. Vermutlich hat sie Klaus deswegen angerufen, weil er der Pate von Ingo ist. Sie hat zu Klaus gesagt, sie und die Mutter von Ingo möchten niemand sehen und es würde auch keine Trauerfeier geben. Er brauche auch nicht zur Beerdigung kommen, es sei schon alles geregelt. Er könne sie auch nicht anrufen, denn sie würden nicht ans Telefon gehen.“
„Hat sie nicht gesagt, was eigentlich passiert ist“, will ich wissen.
„Nein, nur dass Ingo einen Motorradunfall hatte und tot ist“, sagt Hanna, „mehr wissen wir auch nicht. Es ist so furchtbar, es ist so traurig, wir sind alle ganz fertig.“
Dann fängt sie an zu weinen und ich auch.
„Ich sage Klaus in der Firma Bescheid“, sagt sie schluchzend, „ich lasse ihn suchen und aus der Besprechung holen. Gib mir deine Telefonnummer damit er dich anrufen kann.“
Ich suche die Nummer, finde sie dann endlich auf einer Hotelbroschüre. Natürlich ohne Vorwahl für die Malediven.
Hanna sagt, „komm lass gut sein, das kriegen wir schon raus. Wir melden uns gleich wieder.“
Ich lege den Hörer auf und starre vor mich hin. Caro weint. Dann weine ich auch. Ich kann mich nicht hinsetzen, ich warte am Telefon. Während ich dastehe und darauf warte dass es klingelt, sage ich mehr zu mir selbst als zu Caro: „ Wir müssen so schnell wie möglich nach Deutschland zurück.“
Caro nickt stumm und schlägt die Hände vors Gesicht.
Keiner spricht ein Wort.
Nur die Gedanken fliegen durch den Raum.
Bilder erscheinen und verdampfen wieder.
Bilder von Unfällen, Bilder von Ingo.
Ingo auf dem Motorrad.
Ingo beim Rafting.
Ingo im Bett, wie er sich schlafend stellt um nicht aufstehen zu müssen.
Ingo überall.
Ingo in meinem Kopf, in meinem Körper, in meinem Blut, in meinem Schmerz, meiner Pein.
Ingo überall.
Da klingelt das Telefon. Noch mitten im Klingeln reiße ich den Hörer hoch. „Ja“, sage ich.
„Hallo, hier ist Klaus. Es ist furchtbar. Es tut mir so leid. Hanna hat dir ja schon erzählt was passiert ist. Ich habe nicht gewusst, was ich machen soll und wie ich dich erreichen kann. Du hast zwar gesagt, dass du in Urlaub bist, aber ich hatte keine Telefonnummer. Da ist mir eingefallen, dass du immer von unterwegs deinen Anrufbeantworter abfragst. Da hab' ich dann draufgesprochen und gehofft, dass du dich meldest. Ist das nicht furchtbar. Er war noch so jung. Erst neunzehn Jahre alt. Hat noch kaum gelebt. Ich verstehe das nicht, ich kann es nicht glauben.“
„Wie ist es passiert?“, will ich wissen, „was ist passiert? Wann ist es passiert? Wer hat dich angerufen?“
„Das weiß ich alles nicht so genau. Heute morgen hat deine Tochter bei mir in der Firma angerufen und hat mir gesagt, dass Ingo bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Ich habe sie gefragt, ob sie dich schon benachrichtigt hätte. Sie hat gesagt, sie hätte versucht dich zu erreichen, aber bei dir würde sich nur der Anrufbeantworter melden und am Handy die Mailbox. Außerdem wäre schon alles geregelt. Dann hat sie aufgelegt.“
„Wann hat sie dich angerufen“, frage ich.
„Heute morgen, so gegen halb zehn“, sagt Klaus, „ich habe dann überlegt, wie ich dich erreichen kann und habe dir dann kurz vor zehn Uhr aufs Band gesprochen.“
„Eine halbe Stunde später hat mir dann meine Tochter auch aufs Band gesprochen“, sage ich, „ich verstehe nicht warum sie das nicht gleich gemacht hat.“
„Du hast mit ihr noch gar nicht gesprochen?“, fragt mein Bruder entsetzt.
„Nein, ich habe mit ihr noch nicht gesprochen, aber das mache ich jetzt gleich. Ich verstehe nur nicht, warum sie zuerst dich und dann erst mich angerufen hat. Von dir habe ich es als Erster erfahren.“
„Ich habe ihr gesagt, dass ich dir auf den Anrufbeantworter sprechen werde“, sagt Klaus, „vielleicht hörst du die Nachricht ja ab. Vielleicht hat sie deshalb dann bei dir angerufen.“
„Ja, vielleicht“, sage ich, „vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich werde jetzt bei ihr auf dem Handy anrufen. Und dann versuche ich so schnell wie möglich nach Deutschland zu kommen.“
„Ja, wenn ich was für dich tun kann, sag mir Bescheid. Ich bin ab achtzehn Uhr zu Hause zu erreichen. Wenn du zurück bist, ruf mich unbedingt an. Mach’s gut, wir denken an dich, es tut uns so leid. Sag Grüße an Caro“, sagt er noch und fängt an zu schluchzen.
„Ja, okay, danke, mach' ich“, sag ich und lege den Hörer auf.
„Was ist, was sagt er, was ist passiert“, will Caro wissen. Sie hat von der ganzen Unterhaltung natürlich nur meinen Teil mitgehört und die Antworten von Klaus und Hanna gar nicht gehört.
Ich wähle wortlos die Handynummer meiner Tochter. In mir ist es ganz kalt. Ich friere und es schüttelt mich.
Es klingelt. Ein paar mal, dann nimmt sie ab. „Ja“, sagt sie. Ich erkenne die Stimme sofort, obwohl ich seit fünf Jahren keinen Kontakt zu ihr habe. Weder mündlich, noch schriftlich. Dreiundzwanzig Jahre ist sie jetzt alt. Achtzehn davon haben wir gemeinsam unter einem Dach gelebt. Jetzt ist es die Stimme einer Fremden.
„Ja“, sagt sie noch einmal. Was soll ich jetzt sagen? Soll ich sagen „Dein Vater“, oder „Papa“ oder „Ingo’s Vater“ oder „der ehemalige Mann deiner Mutter“ oder was?
Statt dessen sage ich: „Ich.“
Sie weiß sofort wer ich bin. Das merke ich an ihrer Stimme, die sich verändert. Das Gespräch ist ihr unangenehm. Der Ton wird merklich kühler.
„Hast du meine Nachricht bekommen“, will sie wissen. „Ja, deshalb rufe ich an“, sage ich.
„Dann weißt du ja schon Bescheid“, meint sie kühl.
„Ich weiß überhaupt nicht Bescheid“, gebe ich zurück, „könntest du bitte mal so nett sein und mir erzählen was eigentlich los ist, was eigentlich passiert ist.“
„Ingo ist tot. Er hatte einen Motorradunfall auf dem Weg zur Schule“, raunzt sie in das Telefon, so als wäre er selbst schuld daran.
„Wann ist das passiert und wo“, frage ich und merke, wie mir Galle in den Mund steigt.
„Am Mittwoch, morgens, als er in die Schule gefahren ist“, sagt sie.
Ich merke wie ich explodiere. Ich merke wie die Wut, wie der Frust, wie der Schmerz, die Ohnmacht, die Verzweiflung in mir hochkommen.
„Am Mittwoch, am Morgen ist es passiert. Ingo ist fast drei Tage tot und ihr seid nicht in der Lage mir das zu sagen. Jetzt ist Freitag, hier ist es schon Abend. Ihr braucht drei Tage um eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Du brauchst drei Tage um meinen Bruder anzurufen. Ich glaub' das nicht. Es ist unbegreiflich. Drei Tage ist Ingo schon tot und du und deine Mutter haltet es nicht für nötig, mir Bescheid zu sagen“, brülle ich in das Telefon.
„So kannst du nicht mit mir reden, du nicht“, schreit sie zurück und unterbricht die Verbindung.
Caro starrt mich fassungslos an. Mit aufgerissenen Augen, verweint starrt sie mich an. So hat sie mich noch nie gesehen.
„Wir fahren zurück nach Deutschland, sofort“, würge ich hervor. Caro nickt stumm.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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