liebetiger  - Das Buch

 

 

Bayern München- VFB Stuttgart

Wir fahren nach Stuttgart, besuchen das Volksfest auf dem Cannstatter Wasen und sehen uns anschließend das Fußballspiel VfB Stuttgart gegen Bayern München an.
Für Ingo ist es das erste Mal, dass er in einem richtigen Fußballstadion ist. Es ist Samstag, am Nachmittag, es ist warm und viele Väter mit ihren Kindern sind im Stadion.
Alle tragen Fußballtrikots mit den Rückennummern ihrer Lieblingsspieler, haben sich Schals ihrer Vereine über die Schulter geworfen und schwenken Fahnen.
Ingo ist begeistert, so was kennt er nur aus dem Fernsehen.
Und als sich die Spieler von Bayern München vor dem Spiel warmlaufen, kann er nicht glauben, dass da nur knapp fünfzig Meter von ihm entfernt wirklich Lothar Matthäus über den Rasen rennt.
Die Atmosphäre ist wirklich beeindruckend, obwohl das Stadion nicht ausverkauft ist.
Die Zuschauer schreien, singen und versuchen die Fans der gegnerischen Mannschaft zu übertönen.
Ingo ist fasziniert. Die Stimmung, die Begeisterung, die Identifikation der Zuschauer mit ihren Mannschaften, das Gefühl zu einer großen Gruppe von Menschen zu gehören, reißt ihn mit.
„Wenn ich das gewusst hätte, wie das hier ist, dann hätte ich auch mein Bayerntrikot angezogen und meinen Schal mitgenommen“, schreit er mir ins Ohr.
„Dann hättest du hier ordentlich Probleme bekommen, denn wir sitzen hier mitten im Fanblock vom VfB Stuttgart“, schreie ich zurück.
Ich weiß nicht, ob er meine Antwort verstanden hat, aber er lacht.
Ich schreie mit den Fans vom VfB, Ingo schreit für Bayern München. Und er springt als Einziger im ganzen Block auf und jubelt, als Bayern mit eins zu null in Führung geht.
Ich tue so, als würde ich die missbilligenden Blicke um uns herum nicht sehen. Trotzdem packe ich Ingo am Hosenbund und ziehe ihn auf den Sitz.
„Sag mal, bist du verrückt, alle Leute gucken schon, setz dich wieder hin, sonst kriegen wir womöglich noch Ärger“, sage ich.
„Warum, können die Stuttgarter nicht verlieren“, fragt Ingo ziemlich laut, so dass es jeder um uns herum hören kann.
„Die Stuttgarter verlieren nicht, die gewinnen dieses Spiel, das Tor war reiner Zufall, außerdem war es vorher Abseits“, sage ich.
Der Mann vor mir dreht sich um und nickt zustimmend.
„Ach was“, schreit Ingo in den nachlassenden Jubel des bayerischen Fanblocks auf der anderen Stadionseite, „die Bayern sind einfach besser, die hauen die Stuttgarter doch in den Sack.“
Mir kommt es vor als wäre es im Stadion plötzlich totenstill geworden und alle Leute schauen mich an. Zumindest die nächsten drei Reihen vor und hinter uns haben Ingo’s lautstarke Einschätzung des weiteren Spielverlaufs bestimmt gehört.
Der Mann vor mir dreht sich wieder um, doch jetzt schaut er mich missbilligend an, als wäre ich für einen schwerwiegenden Erziehungsfehler verantwortlich.
Drei halbwüchsige Fans etwas weiter rechts tippen sich vielsagend an die Stirn und stecken dann die Köpfe zusammen.
Hinter mir sagt jemand, „der ist ja wohl nicht ganz dicht.“ Ich drehe mich lieber nicht um.
Ingo legt den Arm um meine Schulter und zieht mich zu sich hin. Als sein Mund nahe an meinem Ohr ist, sagt er: „Der hat dich gemeint.“
„Ich glaub du spinnst“, erwidere ich, „du hast ja keine Ahnung von Fußball, du Bayernfan und dein Star, der Lothar Matthäus, dieser Stolperer der Nation, hat nur eine große Klappe.“
„Ach ja“, gibt Ingo zurück, „jetzt musst du nur noch behaupten, dass Jürgen Klinsmann, der Schwabenpfeil, besser Fußball spielen kann.“
„Natürlich spielt der Klinsmann besser Fußball als der Dummdödel von Matthäus“, meint der Mann vor mir, der sich zum dritten mal umgedreht hat.
„Genau“, sage ich.
„Ihr habt ja keine Ahnung“, meint Ingo.
„Wer hat hier keine Ahnung“, mischt sich der etwa zehnjährige Junge neben dem Mann vor mir ein und fügt hinzu „Papa, willst du dir das etwa gefallen lassen?“
Der Mann vor mir dreht sich zum vierten Mal um und sieht mich wieder an. Es scheint als hätten er und ich ein Problem mit unseren Söhnen.
Bevor er etwas sagen kann stehe ich auf, packe Ingo am Kragen und sage „komm wir gehen weiter da rüber in die Sonne, da können wir auch besser sehen als hier.“
Ingo schaut mich an, steht wortlos auf und kommt hinter mir her. Als wir ein neues Plätzchen gefunden haben und uns wieder setzen meint er „mit den beiden wären wir doch fertig geworden, oder?“
„Du schon“, sage ich, „bei mir bin ich mir nicht so sicher, der Kerl war im Sitzen schon fast so groß wie ich im Stehen.“
Es kommt wie es kommen muss; Stuttgart verliert das Spiel wohlverdient.
Vermutlich liegt es am Volksfest oder an den Spielern, die zu lange auf dem Volksfest sind oder daran, dass das Stadion zu nah am Volksfest ist.

Wir drehen anschließend auch noch eine Runde über‘s Volksfest, drücken uns noch eine Bratwurst rein und spülen mit Cola und Bier nach.
Auf der Rückfahrt schläft Ingo auf dem Beifahrersitz ein. Zuhause bringe ich ihn ins Bett, ziehe ihm nur noch die Jacke und die Schuhe aus.
Dann bleibe ich noch eine Weile an seinem Bett sitzen und schaue ihn an.
Er sieht so aus, als würde er das merken, ein kleines Lächeln scheint auf seinen Lippen zu liegen.
Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass Bayern München heute gegen den VfB Stuttgart gewonnen hat.
Auf einem Foto von ihm, das später gemacht wurde, sieht er genauso aus.
Die Decke bis an die Schulter gezogen, den Kopf ins Kopfkissen gedrückt und ein Lächeln auf den Lippen, als könnte er durch die geschlossenen Augen sehen was um ihn herum passiert.
Ich habe dieses Foto auf meinem Nachttisch stehen. Und jeden Abend, bevor ich das Licht ausmache, schaue ich das Bild an und denke ein bisschen an Ingo und an den Tag, an dem der VfB Stuttgart die Bayern gewinnen ließ.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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