liebetiger  - Das Buch

 

 

Die Strasse mit Musik

Auf einer dieser Touren, entdecken wir durch Zufall eine Straße, die wie extra für einen Roadster gebaut erscheint. Eine Kurve nach der anderen, rechts links, einige Kuppen, dann Serpentinen, ein paar lange Geraden zum Beschleunigen. Und das Wichtigste, kaum Verkehr und fast immer freie Sicht.
Eigentlich haben wir uns verfahren, als wir auf diese Straße stoßen.
Es ist Sonntagnachmittag und wunderschönes Wetter. Und in etwa zwei Stunden muss Ingo wieder zu Hause sein und dann ist unser gemeinsames Wochenende wieder vorbei. Ich fahre rechts an den Straßenrand und halte an.
Ingo schaut mich an und sagt: „Was ist los, gibt’s Probleme?“
„Ja“, sage ich, „der Z3 will diese Straße noch mal fahren.“
„Warum will der Z3 die Straße nochmals fahren?“, will Ingo wissen.
„Weil sich der Z3 gerade in diese Straße verliebt hat“, gebe ich zur Antwort.
Ingo schaut mich an und versteht nicht.
„Hast du heute schon gelebt?“, frage ich ihn.
Er versteht immer weniger.
„Komm ich zeig dir was ich meine“, sage ich und lege den Gang ein.
Wir fahren die ganze Strecke zurück, etwa fünf Kilometer, bis zu der kleinen Abbiegung, die etwas versteckt hinter einer alten Scheune liegt, die irgendwann mal zum Wohnhaus umgebaut wurde. Da wende ich den Wagen erneut.
„Hast du dir die Strecke gut gemerkt?“, will ich von Ingo wissen. „Ja, so einigermaßen“, meint er.
„Okay, dann halt dich gut fest. Jetzt zeige ich dir mal wie das ist, wenn ein Z3 sich in eine Straße verliebt hat.“
Ich lege den ersten Gang ein, nicht brutal, sondern fast zärtlich.
Der Wagen rollt langsam an, nimmt stetig Fahrt auf. Ich schalte und fahre auf die erste Kurve zu, rechts und links sind Wiesen. Weiter weg ein paar Büsche und dahinter beginnt der Wald.
Die Straße fällt leicht ab und man kann die nächsten Kurven sehen, wie sie sich durch das Tal schlängeln.
Fast die nächsten zwei Kilometer sind zu überschauen, bis es auf der anderen Seite des Tales wieder den Berg hochgeht und die Straße über eine Kuppe auf der Hochfläche verschwindet.
Die erste Kurve nimmt uns auf, wir spüren die Fliehkraft die nach außen drückt, spüren den Schub der Räder die dagegenhalten und den Wagen nach vorne treiben. Wir kommen aus der ersten Kurve und werden nahtlos von der zweiten aufgesogen, nur in die andere Richtung.
Ohne die Geschwindigkeit zu verändern, geht es hinab ins Tal in nicht endend wollenden Rechtslinkskombinationen.
Es ist wie Tanzen, wie Musik in die man sich hineinwirft und fallen lässt. Ein Rhythmus der einen packt und mitreißt.
Nicht rasen oder rennen darf man auf dieser Straße, man muss sie tanzen. Nicht zu schnell werden, nicht aus dem Takt kommen, sonst kann sie böse und gefährlich werden.
Wir tanzen diese Straße entlang wie ein Korken auf den Wellen, mal oben, mal unten, mal rechts und mal links.
Diese Straße macht betrunken, sie lullt ein, treibt Hormone durch die Blutbahn.
Der Fahrtwind zerrt an meiner Mütze, ich muss nicht schalten, halte das Lenkrad ganz ruhig, nur mit kleinen Ausschlägen nach rechts und links.
Der Z3 sucht sich seinen Weg selbst, ich lasse ihn laufen und genieße sein Wiegen, sein Gleiten und seinen Rhythmus.
Der Erbauer dieser Straße war ein Künstler.
Er war ein Genie. Er hat etwas wunderschönes geschaffen.
Wir erreichen den tiefsten Punkt der Straße, wo mit einer scharfen Kurve nach rechts der Anstieg zur Hochfläche eingeleitet wird.
Ich schalte herunter, gebe Zwischengas und lasse den Z3 in diese Kurve hineinlaufen. Dann am Scheitelpunkt trete ich das Gaspedal durch, der Wagen beschleunigt aus der Kurve heraus, man spürt die Kraft, mit der der Wagen nach vorne schiebt. Vom Heck her meldet sich der Auspuff mit einem kräftigen Brummton.
Ich beschleunige den Berg hoch, die Gerade entlang, bis kurz vor die erste Serpentinenkurve.
Jetzt nicht bremsen, nur runterschalten, mit Zwischengas hinein in die Kurve und mit Vollgas wieder heraus.
Fast wie bei einem Burnout dreht der Z3 hinten weg und schiebt dann wieder kraftvoll aus der Kurve heraus.
Das Lenkrad habe ich dabei kaum gebraucht. Nur ganz kurz zum Einlenken in die Kurve. Den Rest machen die Hinterräder, die auf der rauen Straße guten Halt finden.
Wir kommen den Berg hoch. Jetzt kommt die unübersichtliche Kuppe und dann die Sicht auf den gesamten weiteren Straßenverlauf auf der Hochfläche.
Ich nehme das Gas zurück, schalte vor der Kuppe nochmals herunter und lasse den Wagen ohne Gas über die Kuppe rollen.
Wir fahren langsam über die Hochfläche, genau in die Sonne hinein.
Der Motor brummelt leise vor sich hin.
Ich blicke kurz zu Ingo, ohne die Straße aus den Augen zu lassen.
Er sieht mich von der Seite her an.
„Jetzt weiß ich“, sagt er, „was dieses Auto für dich bedeutet. Jetzt habe ich verstanden, warum du genau dieses Auto gekauft hast. Ich habe dich während der Fahrt beobachtet und ich weiß was du gefühlt hast.“
Ich schaue ihm direkt ins Gesicht.
„Was hast du gefühlt?“, frage ich ihn, doch er gibt mir keine Antwort. Wie in Gedanken verloren scheint er an mir vorbei in die Ferne, in seine eigene Zukunft zu schauen.
Dann sagt er wie zu sich selbst: „Hier fahre ich mal mit dem Motorrad.“
Ein Porsche Boxter kommt uns entgegen. Ich hebe die Hand zum Gruß und zeige mit dem Daumen nach oben.
Der Fahrer grüßt mit der linken Hand zurück, seine Beifahrerin winkt.
„Kennst du den?“, will Ingo wissen. „Nein, noch nie gesehen“, erwidere ich.
„Warum grüßt du ihn dann?“, will er wissen.
„Weil ich weiß, was er gleich fühlen wird“, sage ich, „und ich freue mich für ihn.“
„Warum grüßen sich eigentlich die Motorradfahrer?“, sagt er nach einer Weile.
„Ich weiß nicht, einfach so wahrscheinlich“, sage ich.
„Nein“, sagt Ingo, „ich glaube ich weiß warum. Sie grüßen sich, weil sie wissen, was der andere fühlt. Sie grüßen sich, weil sie gleich sind. Weil sie das gleiche lieben, weil sie das gleiche tun. Sie grüßen sich, weil sie Freunde sind, weil ihnen Motorrad fahren Spaß macht.“

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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