liebetiger  - Das Buch

 

 

Zum letzten Mal

Am Friedhof steht vor der Leichenhalle ein schwarzer Mercedes. Ein Kombi, hinten mit silbernen Fenstern. Zwei Männer stehen davor und unterhalten sich, als wir näher kommen.
„Hallo“, sage ich, „wir haben gerade telefoniert. Ich möchte meinen Sohn sehen, wo ist er?“
Einer der Männer sagt: „Sie haben mit mir telefoniert.“ Er kommt auf mich zu, nimmt meine Hand und sagt „Mein herzliches Beileid.“ Ich will meine Hand wieder zurückziehen, aber er lässt sie nicht los, sondern zieht mich etwas auf die Seite, während der andere Mann sich mit Caro unterhält.
„Glauben sie mir, ich kann ihren Wunsch, ihren Sohn noch einmal zu sehen, sehr gut verstehen“, sagt er, „aber sie müssen auch mich verstehen, ich habe Anweisung von meinem Auftraggeber, den Sarg nicht mehr zu öffnen. Ich glaube ihnen, dass sie der Vater sind und mir ist der gesamte Vorgang wirklich sehr peinlich, das müssen sie mir wirklich glauben. Ich habe den Toten nach der Obduktion noch nicht gesehen. Manchmal sehen die wirklich furchtbar aus. Durch den Unfall sind teilweise die Gesichter so entstellt und blutunterlaufen, dass sie nicht mehr zu erkennen sind. Auch kommt es vor, dass bei der Obduktion die Augäpfel entfernt werden. Das alles kann ein ziemlicher Schock für die Angehörigen sein. Ich habe da schon die stärksten Männer umfallen sehen. Ich möchte, dass sie mir etwas versprechen.“
„Alles was sie wollen“, sage ich, „ich will nur meinen Sohn sehen.“
„Genau darum geht es. Wenn ich jetzt in die Leichenhalle gehe, den Sarg öffne und dann wieder herauskomme und ihnen sage, dass es besser ist, wenn sie ihren Sohn so wie sie ihn kennen, in Erinnerung behalten. Wenn ich ihnen dann sage, dass sie ihn besser nicht mehr sehen sollten, werden sie sich dann an meinen Wunsch halten?“, fragt er mich.
„Haben sie Kinder?“, frage ich ihn und sehe wie er blass wird.
„Ja“, sagt er, „ich habe Kinder.“
„Dann gehen sie jetzt hinein und machen den Sarg auf. Dann kommen sie zu mir und sagen mir, ob ich meinen Sohn sehen kann oder nicht. Ich verspreche ihnen, mich an ihren Rat zu halten“, sage ich zu ihm.
Er drückt mir nochmals die Hand, die er die ganze Zeit nicht losgelassen hat, dreht sich um und geht langsam mit schweren Schritten in die Leichenhalle.
Caro, die sich immer noch mit dem zweiten Mann unterhält, sieht zu mir herüber. Sie wirft mir einen fragenden Blick zu.
In diesem Moment bin ich der einsamste Mensch. In wenigen Minuten wird sich entscheiden, ob ich meinen geliebten Tiger, meinen Tigi, noch ein allerallerletztes Mal sehen darf.
Die Tür zur Leichenhalle geht auf und der Bestattungsunternehmer kommt heraus. Er nickt mir zu, hält die Tür auf und sagt: „Fünf Minuten.“
Ich danke dir Gott. Ich danke dir, dass du mir die Zeit gibst, meinen Abschied von Ingo zu nehmen.
Gib mir nach neunzehn Jahren noch einmal fünf Minuten Zeit, dann komm' ich wieder heraus und dann mach mich tot.
Bitte.
Caro hat ihr Gespräch unterbrochen und nähert sich ebenfalls der offenen Tür. Ich schüttle den Kopf und sage: "Lass mich bitte allein. Ich möchte mit ihm ganz alleine sein. Nur er und ich. So wie wir es viele Jahre lang waren. Lass mich bitte alleine hineingehen.“
Ich sehe die Sorgen in ihren Augen und sage noch einmal leise: „Bitte.“
Caro tritt einen Schritt zurück und ich gehe durch die Tür, die hinter mir sanft zuschlägt.

Es ist etwas dämmrig in dem Raum und ganz still.
Auf einem Wagen steht ein offener Sarg.
Einige Blumen stehen am Boden und um den Sarg herum.
Da liegt er. Da liegt er und schläft.
So wie ich ihn kenne.
Nur das Lächeln um seine Lippen fehlt.
Er stellt sich nicht schlafend, er schläft wirklich.
Die Augen sind geschlossen.
Das Gesicht friedlich.
Kein Schrecken, kein Entsetzen, kein Schmerz ist da zu sehen.
Er hat sich in die Lippe gebissen, leicht blutig ist sie.
So wie damals als er mir seinen Schneidezahn in die Stirn gebohrt hat.
Am linken Auge zur Schläfe hin ist ein leichter dunkler Fleck, ein Art Bluterguss.
Die Hände hat er gefaltet.
Auf seinem Schoß liegt das Trikot der Mannheimer Adler mit allen Spielerunterschriften.
Er hat die Hände drauf gelegt, als wollte er es festhalten.
Ich möchte ihn berühren, aber ich traue mich nicht.
Ich habe Angst vor der Berührung. Angst vor etwas, das ich nicht beschreiben kann.

„Hallo Tigi“, sage ich leise, „was machst du denn für einen Scheiß? Du kannst dich doch nicht einfach hinlegen und sterben. Nicht jetzt. Du bringst die Reihenfolge durcheinander. Ich wäre als erster dran gewesen. Nicht du. Das kannst du nicht machen, nicht jetzt wo die Adler eine neue Mannschaft zusammenstellen. Ich habe dir deine Adlermütze mitgebracht.“
Ich erzähle ihm leise von den Adlern, von seinen geliebten „Määnheim Eagles.“ Die Mütze mit den Adleraugen lege ich ihm zum Trikot auf den Schoß. Dann lege ich meine Hand auf seinen Kopf, seine kurzen Haare sind borstig wie immer. Ich fahre ihm durchs Haar und spüre die Kälte wo sonst kuschelige Wärme war. Er dreht seinen Kopf nicht mehr in die kraulende Hand hinein, er drängt nicht mehr nach noch mehr Streicheleinheiten.
Nein, er bleibt einfach so liegen. Verzieht keine Miene. Bewegt sich nicht.
Ich betrachte ihn lange, sauge jede Kleinigkeit in mich auf, kann den Blick nicht von ihm wenden.
Ich weiß, wenn ich mich jetzt umdrehe, werde ich ihn nie mehr sehen.
Nie mehr.
Nie mehr in meinem ganzen Leben.
Solange es auch dauern wird, Ingo werde ich nicht mehr sehen.
Wenn ich jetzt die Augen schließe, muss ich ihn mir vorstellen können.
Ich muss sein Gesicht auswendig kennen, jede Einzelheit lernen. Jetzt, bevor sie die Tür wieder aufmachen und mich herausholen.
Ich starre ihn an und erlebe in Gedanken unsere schöne Zeit miteinander noch einmal.
Sehe ihn Fußball spielen, GoCart fahren, mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich sitzend an den Resten seiner Pizza nagen, Pferdchen schlag mich spielen.
Ich sehe ihn beim Eishockey, mit Bratwurst und Cola in der Hand.
Und ich sehe ihn auf seinem Motorrad, voller Freude und Stolz.
Unmengen von Pizza und Cola, Maultaschen in der Brühe, RitterSport und FisherMans haben in ihn reingepasst.
Du warst mir ein guter Freund, ein echter Kumpel, ein Sohn, wie ich ihn mir hätte besser nicht wünschen können.
Aber du gehörtest nicht mir, du gehörtest nicht uns. Ich hätte dich gerne noch ein bisschen bei mir gehabt.
Du hast mir viel Freude bereitet, du alter Stinker.
Pass auf dich auf.
Ich denke an dich und liebe dich.
Ich dich auch liebe tiger.
Ich dich auch liebe tiger.
Ich werfe noch einen letzten Blick auf ihn und gehe dann mit tränennassen Augen hinaus in die Sonne.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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