liebetiger  - Das Buch

 

 

Motorrad

Dann setzt er sich zum ersten Mal auf sein Motorrad.
Stolz steht in seinen Augen. Er lacht.
Dann lässt er die Maschine zum ersten Mal an. Mit einem sonoren Knattern springt sie an. Der Sound kann sich wirklich hören lassen, das ist kein Moped.
Langsam gibt Ingo Gas. Das Knattern wird zum Röhren. Blauweiser Rauch kommt aus dem Auspuff. Ingo steht mit beiden Beinen auf dem Boden, die Maschine dazwischen. Mein Gott, denke ich, ist er groß geworden. Ich könnte das nicht, meine Beine würden nicht bis auf den Boden reichen.
Ingo gibt noch ein paar mal Gas, dann setzt er den Motorradhelm auf. Sein Gesicht verschwindet unter dem Helm, nur die Augenpartie ist noch zu sehen. Wie ein erwachsener Mann sieht er aus, wenn man sein Gesicht nicht sieht, geht mir durch den Kopf.
Ein junger Mann steht vor mir.
Liebe Tiger ist ein Mann geworden.
Mein Tigi ist fast erwachsen. Bald, vielleicht zu bald wird er mich nicht mehr brauchen.
Wehmut und Stolz fühle ich, als Tigi zum ersten Mal mit seinem Motorrad losfährt.
Etwas heftig ist der Start schon, so ganz klappt das Zusammenspiel von Kupplung und Gasgriff noch nicht. Aber das ist sicher nur eine Frage der Zeit.
 
Ingo dreht auf dem Hof ein paar Runden.
Dann fährt er durch die Hofeinfahrt auf die Straße und verschwindet um die Ecke. Ich höre die Maschine noch beschleunigen. Dann wird es still.
Angst fühle ich plötzlich in mir aufsteigen. Ich warte auf den Knall, auf den Krach, auf das Quietschen bremsender Reifen, auf das Splittern von Glas und bin bereit, sofort loszurennen.
Doch nichts passiert. Es bleibt alles ruhig. Die Minuten vergehen. Ich werde immer unruhiger. Hoffentlich passiert ihm nichts. Hoffentlich geht alles gut.
Um meine Nervosität zu verbergen schlendere ich langsam und unauffällig in Richtung Hoftor und Straße. Vielleicht kann man von dort um die Ecke sehen?
Da höre ich ihn kommen. Das ist sein Motorrad. Den Ton kenne ich schon. Mein Gott wie bin ich froh, mir ist richtig schlecht geworden.
Ingo kommt um die Kurve gefahren, ganz sicher, biegt in den Hof ab und bremst etwas provozierend genau vor meinen Beinen.
Er gibt nochmals kurz Gas und stellt dann den Motor ab. Durch den Sehschlitz des Motorradhelmes kann ich seine Augen sehen. Stolz und Selbstbewusstsein sehe ich da.
Dann nimmt er den Helm ab und sieht mich an.
„Und ?“, sage ich.
„Geil, absolut geil“, erwidert er, „die Maschine ist absolut geil, viel besser als das Motorrad aus der Fahrschule.“
„Hast du unterwegs Probleme gehabt, du warst so lange weg“, will ich wissen.
„Null Problemo“, meint er, „ich war doch nicht lange weg, nur einmal um den Block.“
Wie soll ich ihm jemals erklären, dass es für mich wie eine Ewigkeit war.
„Komm mal her“, sagt er, „ich muss dir was zeigen.“ „Was denn“, frage ich und trete näher an das Motorrad heran.
Da nimmt er die Hände vom Lenker, legt sie mir über die Schultern und zieht mich an sich. Er ist im Sitzen so groß wie ich im Stehen.
„Danke“, sagt er, „vielen Dank.“ Und dann „ich hab' dich lieb.“
Bevor ich etwas sagen kann, haut er mir mit seiner behandschuhten Hand leicht ins Genick und startet mit der anderen Hand die Maschine.

Mein „ich dich auch liebe tiger“, geht im Aufröhren des Motors unter.

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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