liebetiger  - Das Buch

 

 

Sportstudio

Ingo hat Ferien, ich glaube Ostern oder so, und wir verbringen den Nachmittag im Sportstudio.
Zuerst fünfzehn Minuten Rad fahren, nur um sich warm zu machen.
Ingo tritt sofort wie ein Verrückter in die Pedale und liest mir permanent die Daten von seiner Computeranzeige vor. Drehzahl, Wegstrecke, Geschwindigkeit, Kalorienverbrauch.
Als ich ihm keine Antwort gebe, beugt er sich aus dem Sattel, stützt sich auf meiner Schulter ab und versucht einen Blick auf die Anzeige meines Computers zu werfen.
„Bei dir sieht es ja ganz anders aus, wie bei mir“, meint er. „Du musst auch zuerst dein Alter und dein Gewicht in den Computer eingeben“, sage ich zu ihm, „sonst funktioniert das nicht richtig.“
„Wie geht das?“, will er wissen, und ich erkläre es ihm. So ganz nebenher trete ich dabei gleichmäßig in die Pedale.
„Zuerst das Alter“, sage ich. „Sechzehn“, sagt er laut und tippt in den Computer. „Dann das Gewicht“, sage ich.
Ingo sagt nichts, fummelt aber am Computer herum. „Das Gewiiiicht“, sage ich noch mal.
„Hab ich schon“, meint er. „Und wie viel?“, will ich wissen. „Das geht dich nichts an“, brummelt er vor sich hin.
„Komm, lass sehen“, sage ich und versuche auf seine Computeranzeige zu sehen, doch Ingo hält die Hand davor.
Ich halte seine Hand fest und versuche sie auf die Seite zu schieben. Er drückt dagegen und fängt an zu lachen.
„Du hast Übergewicht“, rufe ich, „du bist zu dick und deshalb darf keiner wissen was du wiegst.“
Gleichzeitig versuche ich immer noch einen Blick auf seinen Computer zu werfen.
Ingo fängt wieder an voll in die Pedale zu steigen und ruft: „Fang mich doch, wenn du kannst. Ich bin viel schneller als du.“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und so kommt es, dass wir beide nebeneinander auf den Fahrradtrainern sitzen,  in die Pedale treten was das Zeug hält und gleichzeitig versuchen uns gegenseitig vom Fahrrad zu schubsen.
Erika steht hinter der Empfangstheke und schaut uns kopfschüttelnd zu.
Dann fängt mein Computer an zu piepsen. Ich habe mein Pensum erfüllt, meine eingestellte Trainingszeit ist abgelaufen.
Ich rufe „Erster“ und reiße die Arme hoch wie ein Fahrradprofi bei der Zieldurchfahrt.
„Du hast geschummelt“, ruft Ingo, „du hast deinen Computer anders eingestellt.“
Ich drehe mich nach hinten um, lege die Hand wie ein Schild schützend über die Augen und sage zu Ingo: „Vom Hauptfeld ist noch nichts zu sehen, die haben wir aber ordentlich abgehängt. Schade, dass du nur Zweiter geworden bist, aber dir fehlt eben noch ein bisschen die Erfahrung. Gegen einen Profi wie mich hast du halt im Sprint noch keine Chance.“
Ingo fällt laut lachend vom Fahrradtrainer.
Nach einer kurzen Verschnaufpause und einem Energydrink geht es zum Gewichtheben.
Ich soll bei meinen Übungen dreißig Kilo zehnmal hochziehen. Einmal vorwärts und einmal rückwärts. Das Ganze dann in drei Durchgängen. So kommt die Oberarmmuskulatur, die Brustmuskulatur und die Rückenmuskulatur dran.
Angefangen hatte ich mit zehn Kilogramm.
Ingo setzt sich als erster auf die Bank. „Leg mal sechzig Kilo auf“, meint er.
„Ich glaub‘ du spinnst“, sage ich, „das hebt dich doch vom Sitz, das kriegst du nie hoch.“
„Du vielleicht nicht, aber ich schon“, erwidert er.
Na gut, wenn du meinst, denke ich mir und lege wirklich sechzig Kilo auf.
Ingo zieht, aber nichts bewegt sich.
Ingo setzt sich anders hin, konzentriert sich und zieht wieder.
Wieder passiert nichts. Ingo schaut mich prüfend an und ich fange leise an zu lachen.
„Du bist ein Schlitzohr“, sagt er zu mir, „du hast mehr als sechzig Kilo eingestellt.“
„Habe ich nicht, wirklich nicht. Ich habe dir gleich gesagt, dass du sechzig Kilo nicht packst“, sage ich.
Ingo beugt sich nach vorne und kontrolliert die Gewichte. Er traut mir immer noch nicht. Als er sieht, dass es tatsächlich sechzig Kilo sind, versucht er es noch einmal. Er holt tief Luft, konzentriert sich intensiv und zieht.
Er zieht und zieht, aber das Gewicht bewegt sich nicht. Er strengt sich noch mehr an, wird rot im Gesicht und fängt an zu schwitzen.
Und dann sehe ich es. Er hebt sich langsam aus dem Sitz und fängt an zu schweben. Er macht einen Klimmzug und hängt an der Zugstange wie ein Fallschirmspringer in den Seilen.
Ich fange an zu lachen und sage „das müsste man jetzt fotografieren. Wenn ich das mal jemand erzähle, glaubt mir das kein Mensch.“
„Doch ich“, sagt da eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und da steht Erika und hat einen Fotoapparat in der Hand.
„Haben Sie das fotografiert?“, fragt Ingo entsetzt. „Na klar“, erwidert Erika, „und nicht nur einmal. Wir machen immer Aufnahmen von unseren Mitgliedern.“
„Ich bin aber gar kein Mitglied, ich bin nur zu Besuch hier“, sagt Ingo, „von mir dürfen sie keine Fotos machen. Außerdem bin ich noch minderjährig, sie müssen erst meine Erziehungsberechtigten um Erlaubnis fragen.“
„Erlaubnis erteilt“, sage ich zu Erika, „ich hätte gerne Abzüge davon.“
„Du bist nicht mein Erziehungsberechtigter“, meint Ingo und merkt im gleichen Moment, dass er übers Ziel hinausgeschossen ist.
Auch Erika erkennt, dass jetzt irgend etwas nicht stimmt, dreht sich wortlos um und geht weg.
Ingo lässt die Gewichte los, steht auf und macht einen Schritt auf mich zu, zögert aber dann.
Ich schau ihm ins Gesicht und sage „Was bin ich dann?“
„Du bist mein Freund, ich hab' dich lieb, das weißt du doch“, höre ich dicht an meinem Ohr. Und dann „komm mach' jetzt keinen Scheiß, ich hab' das nicht so gemeint.“
Es folgt ein leichter, fast zärtlicher Klaps ins Genick und der Satz:
„Was machen wir jetzt?“
Wir gehen zum Beindrücken. Nach der Blamage beim Gewichtheben, darf ich als erster auf die Bank. Ich stelle mein Gewicht ein, neunzig Kilo, angefangen hatte ich mit dreißig.
Ingo schaut sich das an und meint „das schaffst du nicht, du musst jetzt nicht versuchen mir zu imponieren.“
„Ich will dir nicht imponieren“, sage ich, „ich mache nur meine Übungen.“
„Wenn du das wirklich schaffst, diese neunzig Kilo, dann ...“, meint Ingo.
„Was dann ...?“, frage ich. „Dann ..., dann ..., dann ..., dann bist du echt gut für dein Alter“, sagt er.
„Ich drück‘ das nicht nur einmal“, sage ich, „sondern zehnmal und das dann dreimal hintereinander.“
„Wer’s glaubt“, meint er, „und wenn, dann bekommst du nur dicke Oberschenkel und kannst beim Fußballspielen nicht mehr so schnell rennen. Das ist gut für mich, denn dann kommst du mir nicht mehr nach.“
„Bevor ich dir beim Fußballspielen nachlaufen muss, musst du erst mal an mir vorbei“, sage ich lachend.
„Wenn du nicht so ein fauler Hacker wärst, dann hättest du gegen mich keine Chance“, meint er. „Stimmt, aber ich bin nun mal ein guter Verteidiger und den erkennt man daran, dass der Schiedsrichter seine Fouls nicht sieht“, sage ich und fange an zu drücken.
Die neunzig Kilo Gewichte bewegen sich gleichmäßig nach oben bis zum Anschlag und dann wieder runter. Und noch mal. Und noch mal. Zehnmal. Dann kurze Pause. Und das Ganze noch mal.
Und um meinen Triumph richtig auszukosten, drücke ich den letzten Hub nur mit einem Bein.
Ingo steht und starrt mich an. Zuerst sagt er kein Wort, dann öffnet er den Mund und sagt leise: „Unglaublich.“
Ich bleibe noch ein bisschen sitzen. Offiziell um mich auszuruhen, inoffiziell um den Triumph noch etwas nachwirken zu lassen.
Dann stehe ich auf und sage „jetzt du.“
Ingo setzt sich hin, stellt die Sitzposition richtig ein, denn er ist größer als ich. Nur wenige Zentimeter, aber er ist größer.
Und dann stellt er die Gewichte auf einhundert Kilogramm. Er kann es einfach nicht lassen.
Er sieht mich provozierend an und drückt prüfend mit den Beinen gegen die Gewichte.
Dann rutscht er sich auf der Bank in eine gute Sitzposition, konzentriert sich und fängt an zu drücken.
Die Gewichte schweben langsam nach oben. Ich starre auf die Gewichte und warte darauf, dass sie jeden Moment wieder herunter knallen.
Doch sie bewegen sich weiter nach oben, bis ganz nach oben. Ich blicke zu Ingo.
Er sitzt ganz gerade, den Rücken fest an die Lehne gepresst und die Beine durchgedrückt. Stolz steht in seinen Augen. „Na, habe ich es dir nicht gesagt“, sagen diese Augen, während er die Gewichte langsam wieder herunterlässt.
Ich sehe es ihm an, jetzt will er den Wettkampf. Jetzt will er wissen, wer von uns beiden der Stärkere ist.
Ich setze mich wortlos hin, stelle die Gewichte auf einhundertundzehn Kilo und drücke, anscheinend problemlos, die Beine durch und die Gewichte bis zum oberen Anschlag. Dann stehe ich auf und verbeuge mich mehrfach nach allen Seiten vor einem imaginären Publikum, das mir zujubelt.
Ingo zögert nicht. Stellt die Gewichte auf einhundertzwanzig Kilo. Jetzt bin ich gespannt, ob er das schafft. Ich sehe ihm an, dass er am Limit ist, aber er drückt die einhundertzwanzig Kilo nach oben.
Danach bleibt er noch etwas sitzen, vermutlich ist er selbst überrascht, dass er das geschafft hat.
Dann steht er ebenfalls auf und bedankt sich bei seinem Publikum indem er langsam auf die Knie sinkt und die Arme nach oben reißt. Er sieht aus wie ein Mohammedaner, der gegen Mekka betet.
„Du hast deinen Gebetsteppich vergessen“, sage ich, „aber noch hast du nicht gewonnen.“
Ingo schaut mich fast ungläubig an.
Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich noch einmal nachlege.
Ich setze mich fast theatralisch auf die Bank und stecke den Stift für die Arretierung der Gewichte auf einhundertunddreißig Kilogramm. Dann fummele ich noch etwas an der Sitzbank herum, stehe noch mal auf um alles zu überprüfen.
„Du machst vielleicht ‘ne Schau“, höre ich Ingo hinter mir sagen.
Ich setze mich wortlos hin und fange an mich zu konzentrieren. Dabei schaue ich Ingo an. In seinen Augen sehe ich jetzt leise Zweifel an seinem Sieg aufkommen. Ich kenne diesen Ausdruck, dieses Resignieren, dieses Nachgeben, dieses Aufgeben.
Anita fällt mir ein, die Psychologin. Ingo braucht Erfolge hat sie zu mir gesagt. Er braucht persönliche Erfolge um die familiäre Katastrophe zu überwinden, hat sie gesagt. Helfen sie ihm dabei, hat sie gesagt. Nicht nur einmal.
Ich drücke gegen die Gewichte und spüre wie sie nachgeben. Als ich weiß, dass ich es schaffen werde, fangen meine Knie vor Anstrengung sichtbar an zu zittern und die Gewichte bleiben stehen. Es scheint, dass ich mit unmenschlicher Kraft nicht mehr in der Lage bin, sie ganz nach oben zu drücken.
Krachend fallen die Gewichte zurück und ich sacke auf dem Sitz in mich zusammen.
„Ja“, schreit Ingo und reißt die Arme hoch, „ja, gewonnen.“ Er tanzt wie ein Verrückter um die Drückbank herum, auf der ich wie ein Häufchen Elend sitze.
„Gewonnen, gewonnen, hier sehen sie den Sieger, den neuen Weltmeister.“
Er kommt auf mich zu, klopft mir auf die Schulter und meint „mach' dir nichts draus, der Bessere hat gewonnen. Wenn du weiterhin feste trainierst, dann gebe ich dir vielleicht irgendwann mal Revanche.“
Spricht’s und geht zur Theke um sich eine Energydrink zu bestellen, den natürlich ich als Verlierer bezahlen muss.

 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

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