liebetiger  - Das Buch

 

 

Probleme

Ingo fängt an die Wohnung zu versauen. Überall lässt er seinen Dreck rumstehen und rumliegen. Hier der Teller mit Essensresten, dort das Papier von der Schokolade und überall leere Cola-Flaschen. Als es dann auch noch mit der Körperhygiene und der Sauberkeit auf der Toilette hapert, platzt mir der Kragen.
Es kommt zu einer weiteren, diesmal sehr heftigen, aber einseitigen Auseinandersetzung.
Wochenendvater hin oder her. Erziehungsberechtigt oder nicht, so kann es nicht weitergehen, so will ich nicht weitermachen.
Ich sage ihm ordentlich meine Meinung. Er sieht mich die ganze Zeit an und ich habe irgendwie das Gefühl, dass er mich nicht versteht, gar nicht weiß von was ich rede.
Das macht mich noch wütender und ich steigere mich langsam in eine Schimpftirade hinein. Alles was mir in den letzten Monaten sauer aufgestoßen ist, ob im Beruf, im Scheidungsverfahren, mit den Anwälten oder sonst irgendwo, alles bekommt er aufgetischt und vorgeworfen.
Als ich endlich fertig bin, weil mir überhaupt nichts mehr einfällt, ich meinen Frust herausgeschrieen habe und mir langsam besser wird, da dreht sich Ingo um und lässt mich ohne ein Wort zu sagen einfach stehen.
Geht aus dem Raum, verschwindet in seinem Zimmer und macht die Tür hinter sich zu.
Wenn er sich wenigstens wehren würde, wenn er wenigstens mit der Tür knallen würde, wäre mir viel wohler.
So aber lässt er mich zurück mit einem unendlich schlechten Gewissen und dem Bewusstsein, ihn als Fußabstreifer für meine Probleme zu benutzen.
Aber sicher kommt er bald wieder aus dem Zimmer und tut so, als wäre nichts geschehen.
Ab und zu muss man doch auch als Vater seine Meinung sagen können und dürfen, oder?
Also komm jetzt raus aus deinem Zimmer und hab dich nicht so,  so schlimm war das doch gar nicht!
Sicher liegt er jetzt auf dem Bett und sieht sich im Fernsehen irgendeine Sportsendung an. Irgendeine Wiederholung irgendeines Fußballspieles das er schon dreimal gesehen hat.
Ich horche,  höre aber nichts. Keinen Ton, keinen Piep, gar nichts.
Bestimmt hat er den Ton ganz leise gedreht, aber dann müsste ich durch das Schlüsselloch irgend etwas erkennen können.
Da ist aber nichts zu sehen. Er liegt nicht auf dem Bett und der Fernsehapparat ist auch nicht an.
Wo ist er denn? 
Ha, natürlich, er ist bestimmt auf die Toilette, ohne dass ich es bemerkt habe.
Ich behalte den Flur im Auge, aber nach einer halben Stunde immer noch nichts.
Ich mache die Tür zur Toilette auf, so als wollte ich gerade selber dorthin.
Die Toilette ist leer.
Jetzt packt mich Panik.
Ingo ist weg!
Er ist abgehauen, es war zu viel, er hat sein Zeug geschnappt und ist nach Hause!
Er ist zu seiner Mutter und seiner Schwester zurück! Er hat mich alleine gelassen und kommt nicht mehr!
Warum sollte er sich auch meine Vorwürfe anhören, wenn es mir nicht passt wie er sich verhält, dann braucht er ja auch nicht mehr zu kommen.
Da geht er dann lieber mit seinen Kumpels auf den Sportplatz, als sich von mir ungerechtfertigt zur Schnecke machen zu lassen.

Ohne anzuklopfen mache ich die Tür zu seinem Zimmer auf.
Da steht er am Fenster, mit dem Rücken zu mir und weint. Fast lautlos, ich sehe seine Schultern zucken.
Er dreht sich nicht um, nimmt mich nicht zur Kenntnis.
Weint leise schluchzend vor sich hin.
Er steht schon die ganze Zeit so, das Bett ist unberührt. Er steht seit mehr als einer Stunde in seiner Verzweiflung leise weinend am Fenster und weiß nicht was er jetzt tun soll.
Er kann sich nicht wehren, er will sich nicht wehren und weiß keinen Ausweg.
Was bin ich doch für ein Arschloch!!!
Warum habe ich das gemacht???
Kann ich meinen Frust nicht anders loswerden, muss ich ausgerechnet ihn damit konfrontieren?
Muss ich den ganzen Trennungsmist auf ihm abladen, mich an ihm abreagieren?
„Es tut mir leid“, sage ich.
Er dreht sich nicht um.
„Es tut mir wirklich leid“, sage ich nochmals, „ich habe es nicht so gemeint.“
Wieder keine Reaktion, als hätte er mich gar nicht gehört.
„Es tut mir ganz furchtbar leid, Tigi. Ich hab' mich halt geärgert über ein paar Sachen, auch über Dinge für die du nichts kannst und dann bin ich ausgerastet, es tut mir leid.“
Er dreht sich langsam um und schaut mich an. Wie ein weidwund geschossenes Reh, voller Schmerz und Qual.
Nie in meinem ganzen Leben werde ich diesen Blick vergessen können.
„Warum tust du mir das an“, sagt dieser Blick, „weißt du denn nicht dass ich dich liebe, dass ich dich brauche. Weißt du nicht wie ich leide, wie ich unter dieser Situation leide, viel schlimmer als du. Ich kann kein neues Leben anfangen wie du. Ich kann nicht einfach weggehen, ich muss es aushalten. Merkst du denn nicht welche Kraft ich dafür brauche, welche Schwierigkeiten ich dadurch habe. Merkst du denn eigentlich nicht wie verzweifelt ich bin. Ich bin nicht so groß und stark wie du. Ich bin noch ein Kind, ich bin noch ein kleiner Junge. Ihr habt mich getrennt, habt mich zerrissen, habt mich geteilt. Ich hab' mich geteilt, weil ich dich unendlich liebe und ohne dich nicht leben kann und will. Und du scheißt mich zusammen, machst mich fertig wegen ein paar leeren Flaschen Cola, die irgendwo in der Wohnung herumstehen.“

Als ich ihn zum erstenmal sah, da hatten sie ihm die Augen verbunden, wegen dem ultravioletten Licht.
Ich hatte damals Mitleid mit ihm, mit diesem kleinen Kerl, wie er da so nackt in dem Inkubator lag.
Damals konnte ich seine Augen nicht sehen, aber jetzt sehe ich sie und begreife, dass sich seither nichts verändert hat.
Er liegt immer noch im Inkubator, er ist immer noch auf meine Hilfe angewiesen, er hängt immer noch an den Schläuchen. An den alten und an den neuen, die ich ihm angehängt habe.
Und jetzt ist es meine Aufgabe, ihm die Schläuche und Kabel wegzunehmen. Diesmal bin ich nicht zu feige, das verspreche ich dir.
Die gleiche unendliche Zärtlichkeit, wie nach seiner Geburt, rinnt mir durch den Körper als ich ihn wortlos in die Arme nehme.
Wir stehen lange schweigend, weinend und schauen gemeinsam aus dem Fenster.

Nach diesem Tag ist nichts mehr wie es war.
Es ist ein stilles Verstehen entstanden. Wir brauchen darüber nie mehr zu reden, wir wissen es.
Ich lebe täglich mit dem Bewusstsein, dass Ingo mich braucht und ich ihn brauche. Er steht für mich im Mittelpunkt meines Lebens, er ist für mich das Wichtigste das es gibt. Alles andere ist nicht so wichtig, alles andere ist zur Nebensache geworden. Ich werde ihn begleiten, werde ihm helfen die Schläuche loszuwerden, den Inkubator zu verlassen, erwachsen zu werden.
Und ich bin alt genug um zu wissen, dass er dann irgendwann auch mich verlassen wird, mich verlassen muss um sein eigenes Leben zu leben.
 

© Rolf Robert - liebetiger 2002

 

 

Oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten

 

 

 

oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten

 

a

 

oben

 

zurück

 

weiter

 

Unten