Frankfurt, den 10. Mai 2003

Der Wecker

Vor drei Jahren bist du aus dieser Welt gegangen. Du bist gegangen durch die Schuld eines Anderen, der zu deinem Schicksal wurde.

Schon seit Tagen bin ich ruhelos. Kann nicht schlafen, wälze mich unruhig hin und her und wache schließlich schweißgebadet auf.
Liege dann wach, zerschlagen, mit schmerzenden Muskeln, unfähig mich zu bewegen. Der Körper schwer, kraftlos, müde. Die Gedanken bei dir. Irgendwo dort. Wie magnetisch angezogen von einem Punkt im Irgendwo, aber doch hier, nah, greifbar doch fern. Konkret und vage zugleich. Unbestimmt und eindeutig. Eindeutig du. Doch wo. Da, aber nicht hier. Wo?

Heute Nacht hat mich kurz nach zwei Uhr morgens der Wecker aus dem Schlaf gerissen. Ich habe ihn nicht gestellt. Ich wollte nicht, dass er mich weckt. Ich habe die Weckzeit nicht auf zwei Uhr zwanzig gestellt. Es gibt keinen Grund mich heute Wecken zu lassen. Ich habe keinen Termin, muss nirgendwo hin. Es ist Samstag. Wochenende. Niemand erwartet mich. Niemand wartet auf mich. Meine Hand tastet über den Nachttisch, fahrig, unsicher und suchend, stößt die Lampe um, sucht den Wecker und findet dein Bild. Dein Bild das immer auf meinem Nachttisch steht. Schlagartig bin ich wach.
DU WARTEST AUF MICH.
Heute vor drei Jahren. Ja, heute vor drei Jahren war es.
Heute vor drei Jahren zwischen sieben Uhr dreißig und acht Uhr. In wenigen Stunden heute vor drei Jahren hat es dir durch die Schuld eines Anderen das Leben genommen. DU wartest auf mich.

Heute ist dein Todestag.
Heute ist der Tag, der so wichtig wurde wie dein Geburtstag. Denn dazwischen liegt dein Leben. Und mein Leben. Unser Leben. Unser gemeinsames Leben.Du hast mich geweckt.

Genauso wie du mich immer an deinen Geburtstagen geweckt hast, weil du es nicht erwarten konntest.
Deinen Geburtstag.
Mitten in der Nacht habe ich dich in deinem Zimmer rumoren hören, hörte dann deine nackten Füße über den Boden tapsen. Hörte sie näherkommen um dann genau vor meinem Bett zu verstummen. Dann erwartungsvolle Stille. Hinter meinen geschlossenen Lidern kippten die Augen unkontrolliert zwischen Schlafen und Wachen. Oh Gott, es ist bestimmt erst drei Uhr. Meine Lippen öffnen sich zu einem leise geflüsterten „Was ist denn?“.
Ich spürte den Blick und die Erwartung, die da vor meinem Bett stand. Ich hatte die Augen geschlossen, konnte sie gar nicht öffnen, während mein Hirn langsam in Richtung Bewusstsein kroch. Ich drehte den Kopf in Richtung Bettkante um besser hören zu können. Aber ich hörte nichts. Aber ich wußte genaus, du bist da. Du stehst genau vor mir. Schweigend wartend. Du bist da. Langsam öffnete ich die Augen. Ein Schatten, mehr die Ahnung eines Schattens stand im Halbdunkel vor meinem Bett.
„Was ist denn, warum schläfst du denn nicht?“, murmelte ich nochmals.
„Du, Papa?“, sagte der Schatten leise.
„Ja, was ist denn los?“.
„Wann ist denn jetzt endlich Geburtstag?“.
Ein kleines Lächeln zog um meine Lippen.
„Jetzt Tiger, ja jetzt ist endlich Geburtstag. Und jetzt komm noch ein bisschen ins Bett, sonst erkältest du dich noch auf dem kalten Boden und holst dir den Tod“.
Ich hob die Decke ein bisschen hoch und spürte wie du, umgeben von kühler Luft, ins Bett krabbelst. Spürte deinen kleinen Körper, die kalten Füße und deinen Lieblingslöwen Simba. Spürte wie du dich zufrieden zusammenrollst, dich gegen mich drückst um etwas Platz und Wärme zu bekommen. Ich legte meinen Arm um dich und murmelte dir leise ins Ohr: „Happy birthday, Tiger, happy birthday. Alles Gute zum Geburtstag. Heute wird ein schöner Tag für dich“.

Das scheppernde Rasseln des Weckers wird lauter. Meine Hand fuchtelt immer noch suchend über den Nachtisch und findet endlich die umgefallene Lampe. Deren Licht sticht durch die Dunkelheit direkt in die Augen. Ich finde den Wecker und starre ihn an. Erst kurz nach nach zwei Uhr! Der Wecker ist seiner Aufgabe ordnungsgemäß nachgekommen. Aber ich habe ihn weder gestellt noch eingeschaltet.
Wer dann?
Ich starre den lärmenden Wecker an. Wer hat den Wecker gestellt? Wer war in der Wohnung?
Außer mir? Ich war gestern den ganzen Tag unterwegs. War abends müde und bin dann früh zu Bett gegangen. Wer hat den Wecker eingeschaltet?

Das Rasseln des Weckers wird noch lauter und schneller. Es nervt. Jeder Laut wird unerträglich. Meine Hand zuckt wie zur Strafe nach vorne und bringt die Mechanik zum Schweigen.
Die Nachttischlampe taucht den Raum in dämmriges Halbdunkel.
Ich liege wach und habe mich halb aufgesetzt.

Heute ist dein Todestag
Heute vor drei Jahren.
Heute vor drei Jahren zwischen sieben Uhr dreißig und acht Uhr. In wenigen Stunden heute vor drei Jahren hat es dir durch die Schuld eines Anderen das Leben genommen.
Du wartest auf mich.
Du hast mich geweckt
.

Meine Gedanken gehen zu dir.
Finden dich. Kreisen dich ein. Wie angezogen von einem Punkt im Irgendwo, aber doch hier, nah, greifbar. Konkret und vage zugleich. Unbestimmt und eindeutig. Eindeutig du. Und hier.
Vor meinem Bett.
Ich weiß du bist da. Du stehst genau vor mir. Schweigend wartend. Du bist da.
Ein Schatten, mehr die Ahnung eines Schattens im Halbdunkel vor meinem Bett.
„Hallo Tiger, was ist denn, was ist los?“, flüstere ich leise.
„Lass mich heute nicht allein“, sagen deine Augen, „leg deinen Arm um mich und halt mich fest“.

Ich hebe die Decke ein bisschen nach oben und spüre wie er, umgeben von kühler Luft, ins Bett kriecht. Spüre wie er sich zusammenrollt, sich gegen mich drückt um etwas Platz und Wärme zu bekommen.
Ich lege meinen Arm um ihn und murmle ihm leise ins Ohr: „Ich lasse dich nicht allein, das weißt du doch. Wir machen heute einen schönen Tag für dich.

Ich dich liebetiger“.