Frankfurt, den 28. Januar 2003

Liebe Gaby

Die Frage warum unsere Kinder sterben mussten, kann uns niemand beantworten.

Warum mein Kind? Warum? Warum jetzt?
Wie sollen Eltern darauf antworten? Ich denke es ist für sie unmöglich den Tod des eigenen Kindes zu verstehen und erklärbar zu machen.
Andere versuchen es, meist wider besseres Wissen und scheitern kläglich mit ihren Versuchen, denn sie haben keine Vorstellung darüber, was es bedeutet ein Kind zu verlieren.
Die Worte die sie dazu verwenden sind Schicksal, höhere Macht, Gott, Glaube, Religion, Zufall und andere Bezeichnungen, die aber alle nicht greifen und der Frage nicht gerecht werden.

Denn was kann so schwer wiegen wie:
WARUM MUSSTE MEIN KIND STERBEN? WARUM? WARUM JETZT? WARUM SO?
Was will man da auf der anderen Seite in die Waagschale legen? Doch nur sich selbst.
So wird es nie eine Antwort geben und das ist, so denke ich heute darüber, auch gut so.
Trotzdem stelle ich mir diese Frage immer noch jeden Tag.

Nach Ingos Tod hatte ich Angst, dass ich etwas vergesse und habe begonnen eine Art Tagebuch zu schreiben. Ich bin kein religiöser Mensch, bestimmt nicht. Aber nach Ingos Tod, am Tag vor der Beerdigung habe ich geschrieben:

Ich danke dir Gott.
Ich danke dir, dass du mir die Zeit gibst, meinen Abschied von Ingo zu nehmen.
Gib mir nach neunzehn Jahren noch einmal fünf Minuten Zeit.
Nur noch einmal fünf Minuten Zeit mit Ingo.
Nur er und ich.
Und dann mach mich tot.
Bitte.

Später habe ich begriffen, dass das keine Lösung ist. Darum habe ich weitergeschrieben.
Zuerst nur für mich. Vom Schicksal gezwungen. Gegen den Schmerz und das Vergessen. Als Therapie.
Dann für Ingo. Zur wehmütigen Erinnerung an meinen besten Freund.

Heute ist ein Buch daraus geworden.
Mir hat es geholfen. Ich habe mir meinen Schmerz von der Seele geschrieben.
Vielleicht hilft es anderen Menschen auch.
Vielleicht hilft es dir auch.

Liebe Gaby, setz dich hin und schreib.
Schreib über Björn, über Dich, deine Gefühle, deinen Schmerz, dein Leben. Mach es für dich.
Und wenn du fertig bist und es ist gut geworden, dann mach einen Umschlag drum und einen Titel drauf. Mach ein Buch mit Anfang und Ende.

Ich habe aus gutem Grund den folgenden Spruch von Erich Fried als Motto gewählt:

Sein Unglück sagen können in Worten, in wirklichen Worten die zusammenhängen und Sinn haben und die man selbst noch verstehen kann und die vielleicht sogar irgendwer sonst versteht oder verstehen könnte
Und weinen können.
Das wäre schon fast wieder Glück.


Wenn ich Dir helfen kann und du dir helfen lassen willst, dann schick mir eine Email oder schreib hier.

Liebe Grüße

Rolf