Frankfurt, den 11. September 2003

Motorradhandschuhe

Hallo Tiger,
 
beim Aufräumen habe ich in einer Schublade deine Motorradhandschuhe gefunden.

Zusammen mit dem Nierengurt habe ich sie nach deinem Unfall ganz tief unten in der letzten Schublade versteckt, weil ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte.
Von den Handschuhen geht noch immer leichter Benzingeruch aus, die Abschürfungen vom Unfall sind deutlich zu sehen und das Innenfutter ist unverändert blutig.
Schlagartig und brutal wird die Gegenwart durch die zurückkehrende, schmerzliche Erinnerung verdrängt.

Ich hatte damals zu entscheiden, was mit deinem Motorrad geschehen sollte, nachdem der Gutachter die Freigabe verfügt hatte.
„Totalschaden“, hatte er gemeint, „verschrotten“. Dann war er gegangen.

Dann stand ich allein in der alten Lagerhalle.
Es war ganz still, nur die Balken des Daches knackten leicht in der Mittagshitze.
Dein Motorrad lag in einer Wasserlache, auf der ein dünner Ölfilm schwamm.
Es roch nach Benzin und Altöl. Ich schaltete die Kamera ein, hörte das Surren des elektrischen Motors, der den Zoom ausfuhr. Dann begann ich rasch das Motorrad von allen Seiten zu fotografieren. Es war die letzte Gelegenheit Aufnahmen von der Maschine zu machen. Nichts würde mir bleiben außer diesen Fotos und den Erinnerungen.

Als der Film voll war schaltete ich das Licht in der Halle aus, warf einen letzten Blick auf das Motorrad und wandte mich dem hellen Licht zu, das durch die offene Hallentür fiel. An der Tür drehte ich mich nochmals um. Es würde das letzte Mal sein, dass ich das Motorrad sah. Wieder würde mir ein kleines Stückchen Gegenwart zur Vergangenheit werden
Die Sonne warf einen hellen, keilförmig zulaufenden Lichtkorridor in das Dunkel der Halle. Am Ende dieses Lichtkegels lag auf einem alten Ölfass etwas, etwa so groß wie ein Fußball, das mir bisher nicht aufgefallen war. Das Licht der Sonne zeigte wie ein Scheinwerfer genau auf diesen Gegenstand. Eine Stunde früher oder eine Stunde später und der Gegenstand wäre im Dunkeln geblieben.
Ich ging auf diesen Gegenstand zu, der mich plötzlich wie magisch anzog.
Es war das Bordcase von deinem Motorrad. Es war beschädigt, abgerissen beim Unfall und mit der Maschine hierher gebracht. Dann hatte es jemand auf dieses Ölfass gelegt und keiner hatte es bemerkt. Der Deckel des Bordcase war offen, daneben klaffte ein großes Loch. Ich sah zuerst eine angefangene Packung Papiertaschentücher und einige Kaugummis.

Dann Handschuhe. Deine Handschuhe. Deine Motorradhandschuhe.
Die Handschuhe, die du getragen hast als du gestorben ist.

Ich spürte wie meine Beine nachgaben, wie mir bei dem Gedanken schlecht wurde, dass ich beinah deine Handschuhe zusammen mit dem Motorrad hätte verschrotten lassen.
Vorsichtig nahm ich mit zitternden Händen die Handschuhe aus dem Bordcase. Darunter lag dein Nierengurt. Jetzt konnte ich mich nicht mehr beherrschen, ich schluchzte auf, fing an zu weinen und presste die Handschuhe vor mein Gesicht. Ich roch dich. Ich roch dich durch all die anderen Gerüche hindurch. Überdeckt von Benzin- und Ölgeruch konnte ich dich riechen.
Ich saugte es in mich auf wie ein Parfüm, ein Parfüm des Lebens. Es machte mich glücklich und traurig zugleich. Ich hatte dich gefunden und doch gleich wieder verloren.
Wie oft hast du mich mit diesen Handschuhen zärtlich in die Seite geboxt, wenn ich dich wieder mal daran erinnert hatte, dass man zuerst das Motorrad startet und dann erst das Licht einschaltet.

Ich nahm die Handschuhe und den Nierengurt an mich, schaltete dann das Licht in der Halle aus und trat durch die Hallentür hinaus auf den Hof.
Die grelle Mittagsonne blendete, ich kniff die Augen zusammen und die alte Halle verschwamm im hellen Licht.
Es war seltsam still und ich spürte, dass ich jetzt alleine war.


Seitdem sind drei lange Jahre vergangen.
Ich sitze mit deinen Handschuhen im Schoss auf dem Boden im Wohnzimmer und wippe mit dem Oberkörper vor und zurück, wie ein vor Heimweh krankes Tier in seinem Käfig, während der Erinnerungsschmerz durch meinen Körper fließt wie heißes Metall.
Von den Handschuhen in meinem Schoß steigt mir leichter Benzingeruch in die Nase.
Es ist, als wäre das alles erst gestern geschehen.

Pass auf dich auf, da wo du jetzt bist.
Ich denke an dich und ich liebe dich.

Ich dich „liebetiger“.