Frankfurt, den 6. Januar 2003

Ein neues Jahr

und wieder ohne dich.
Den Jahreswechsel habe ich einigermaßen herumgebracht. Keine Raketen und Kracher wie sonst mit dir. Schon lange vor Mitternacht habe ich mich schlafen gelegt, warum sollte ich auch das neue Jahr begrüssen, wenn schon das alte so bescheiden war.
Letzte Woche war ich bei dir am Grab. Der starke Wind und der Regen hatten alle Kerzen ausgelöscht und ich habe eine ganze Schachtel Streichhölzer verbraucht um nur zwei davon wieder anzünden zu können.
Der Schmerz über deinen Tod kommt immer in Schüben, teilweise mitten im Gespräch mit anderen Menschen, die dann gar nicht wissen, warum es mir das Gesicht so verzerrt und ich den Kopf auf die Seite drehe.
Dass ich dir hier schreiben kann hilft mir. Es macht deinen sinnlosen Tod nicht ungeschehen, die Frage nach dem WARUM nicht stumm, aber es hilft mir das Weiterleben zu ermöglichen, wobei ich mich manchmal frage ob das einen Sinn macht.
Die Freude ist mit dir gegangen, du hast sie mit dir ins Grab genommen. Das ist sicher ungerecht gegenüber den Menschen die versuchen Normalität herzustellen und manche bemühen sich wirklich sehr darum. Doch ihr Verständnis ist ein Verständnis der Gedanken und nicht der Gefühle. Sie können deinen Tod verstehen, doch in ihnen ist nicht die Traurigkeit und der furchtbare Schmerz über das was nicht mehr sein kann.
Ich habe im Internet die Spuren von Menschen gefunden, die wie ich ruhelos herumirren auf der Suche nach einer Antwort. Die mir ihre Erinnerungen entgegenhalten und sagen: "da schau, so war's, das ist geschehen, ich kann es nicht verstehen, was wird aus mir, was soll ich jetzt noch, bitte hör mir zu und hilf mir, aber lass mich in Ruhe mit deinen guten Ratschlägen, denn du hast einfach keine Ahnung".
Ich denke helfen kann niemand, nur zuhören.

Ich komme mir vor wie ein Motorradfahrer dem es den Beiwagen abgerissen hat. Es hat mich aus der Kurve getragen, ich kann nicht mehr fahren wie vorher. Ich schlingere durch den Verkehr und jeder der mir entgegenkommt, zeigt mir den Vogel und hält mich für betrunken. Und die, die wissen was los ist, verlieren irgendwann die Geduld mit mir, denn sie können nicht verstehen, dass das nie aufhört.

Kurz nach deinem Unfall habe ich mit der Sekretärin des Rektorats an deiner Schule telefoniert, um die Adressen deiner Mitschüler zu erfahren. Als ich ihr sagte, wer ich bin und warum ich anrufe, da fing sie an zu weinen. Ich dachte zuerst sie weint weil ich irgendwas gesagt habe, das sie verletzt hat. Doch sie weinte weil sie 10 Jahre zuvor ihren Sohn bei einem Unfall verloren hatte.
Auf meine Frage, ob dieser Schmerz so lange anhält, antwortete sie mir " Ja, es ist als wäre es heute gewesen. Ich habe noch zwei Kinder, zwei Mädchen, aber ich vermisse meinen Sohn und ich denke jeden Tag an ihn. Ich weiß, was Ihnen noch bevorsteht. Ich wünsche Ihnen viel Kraft, denn Sie werden sie brauchen".

Damals habe ich das nicht verstanden. Ja, damals. Heute weiß ich daß sie Recht hatte. Es hört nie auf.
Solange ich lebe. Und was dann kommt, das weißt du, aber ich noch nicht.

Pass auf dich auf und warte auf mich.
Ich vermisse dich und "liebetiger"