Frankfurt, den 9. Januar 2003

Gestern

war ich bei dir am Grab.
Durch die Eiseskälte ist der Schnee steinhart gefroren. Die Kerzen auf dem Grab hatten sich richtige Trichter in den Schnee geschmolzen.
Bin lange da geblieben, bis mir die Kälte die Beine hoch kroch und die Zehen taub wurden.
Es war als würden durch die Kälte auch die Gedanken langsamer werden und schließlich einfrieren. Ich kann mich nicht mehr erinnern was ich gedacht habe, ich war einfach nur da.
Nah bei dir, sonst nichts. Gegangen bin ich erst als ein Mann kam und an einem Nachbargrab links von dir stehen blieb. Ich glaube, er musste dort seine Frau begraben. Gesehen habe ich ihn schon öfter, aber außer einem Kopfnicken gehen wir uns aus dem Weg. Er möchte wohl, genau wie ich, auf dem Friedhof alleine sein und seinen Erinnerungen nachhängen können.
Jede andere Person, egal wie nahe sie einem auch steht, stört dabei.

Ich war sehr nah bei dir, obwohl ich wieder das Gefühl hatte, dass du nicht mehr im Grab bist.
Du bist nicht mehr so real und greifbar wie ein Körper, sondern wie eine Stimmung, ein Gefühl, eine Empfindung. Nicht mehr wie etwas Festes, sondern wie Nebel, wie Regen oder Luft. Da, aber doch nicht da. Nicht sichtbar, wie elektrischer Strom, aber doch da wie man am Leuchten einer Lampe, die als Medium dient, sehen kann.
Weißt du wie ich meine? Ich denke du verstehst das besser wie ich.
Es macht den Schmerz in mir aber nicht erträglicher, die Frage nach dem WARUM nicht leiser.

Ich vermisse dich unendlich.

Die Unfallstelle - wenige Tage danachWollte dann gestern dann noch zur Unfallstelle.
Ich möchte dort ein kleines Holzkreuz aufstellen. Aber jemand hat mir gesagt, dass man dazu sicher eine Erlaubnis der Strassenverkehrsbehörde braucht. In Deutschland ist halt alles geregelt. Für die Behörde war es dann schon zu spät, denn Beamte gehen immer etwas früher nach Hause.
Sie haben die Kreuzung an der du gestorben bist, zu einem Kreisverkehr umgebaut. Die Unfallstelle - 2 Jahre später


Hätten sie das nicht vor deinem Unfall machen können, dann wäre das alles nicht passiert.

Ja, was wäre wenn, das geht mir oft durch den Kopf.
Wenn du keinen Führerschein gehabt hättest und ich dir kein Motorrad geschenkt hätte und du auf die andere Schule gegangen wärst und du an diesem Morgen verschlafen oder die Schule geschwänzt hättest, ja dann wäre das wohl nicht passiert.

Dann würden wir noch heute gemeinsam zum Eishockey und in Urlaub fahren. Wir würden gemeinsam Fussball spielen und über Bayern München diskutieren.
Wir würden zusammen lachen und uns sicher auch manchmal streiten.
Dein Tod hat mein Leben verändert, mehr noch als deine Geburt.
Vor dir war nichts und nach dir kommt nichts mehr.
Ich weine jetzt und muss aufhören, denn ich kann den Bildschirm nicht mehr sehen.

Pass auf dich auf da wo du jetzt bist.
 

Ich dich liebetiger.