Frankfurt, den 7. März 2003

Die alten Turnschuhe

Am letzten Sonntag kümmere ich mich nach langer Zeit auch mal wieder um die Schuhe, die sonst ungenutzt im Schuhregal herum stehen und vor sich hin stauben.
Um es besonders gründlich zu machen nehme ich alle Schuhe aus dem Regal, stelle sie paarweise im Kreis auf den Boden und setze mich dann mit Schuhbürste und Schuhcreme mitten hinein.
Ein Paar nach dem anderen kommt so an die Reihe. Zuerst die Braunen, dann die Schwarzen, dann Wildleder und zum Schluss dann die Turnschuhe.
Darunter ist ein Paar, das ich nicht kenne, obwohl es meine Größe hat.

Komisch! Vielleicht hat die Schuhe jemand vergessen, der in jüngster Zeit zu Besuch war?

In Gedanken gehe ich die Besucher der letzten Wochen und Monate durch, doch zu keinem kann ich eine Beziehung zu den Schuhen herstellen. Während ich weiter putze grüble ich darüber nach wem die Schuhe gehören könnten. Es fällt mir niemand ein. Der Größe nach könnten es meine Schuhe sein; der Art nach auch und dass man damit offensichtlich Fußball auf einer Wiese gespielt hat verstärkt die Vermutung.
Ich denk mir: „Jetzt wirst du langsam alt, kennst schon deine eigenen Schuhe nicht mehr“.
So sitze ich auf dem Boden, die Knie angezogen, in der einen Hand die Schuhbürste und in die andere Hand das Kinn aufgestützt und überlege.
Es fällt mir nicht ein wann ich die Schuhe zum letzten Mal angehabt habe. Es muss beim Fußball spielen gewesen sein. Das ist schon lange her. Seit Ingo tot ist habe ich nicht mehr gespielt.
Fast drei Jahre nicht mehr, davor jedes Wochenende.
Ich versuche mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal mit Ingo gespielt habe. Ich kann mich nicht daran erinnern. Es muss auf einer Wiese oder einem Rasenplatz gewesen sein.
Ingo starb am 10.Mai 2000.
Irgendwann vorher haben wir zum letzten Mal Fußball gespielt. Aber wann und wo?
Immer angestrengter versuche ich mich zu erinnern, starre die Schuhe an und nehme schließlich einen in die rechte Hand. Ich nehme den schmutzigeren Schuh, den der offensichtlich für Torschüsse und Flanken zuständig ist. Gras und etwas Erde hängen noch an der Sohle und in den Rillen. Die Schuhkuppe und der Spann sind braungrün, der Rest des Schuhs in einem undefinierbaren weißgrau. Die Schnürsenkel sind offen und doch verknotet. So unordentlich würde ich meine Schuhe nie ins Regal stellen, geht mir durch den Kopf.
Ich stelle den Schuh neben mein rechtes Bein und greife nach dem zweiten, etwas saubereren Turnschuh, in der Hoffnung dort irgendein Zeichen auf seinen Besitzer zu finden. Ich drehe und wende diesen Schuh, blicke in den Schuh, auf die Sohle; ohne Zweifel Schuhgröße 42.
Ich werde immer ratloser. In der linken Hand die Schuhbürste, in der rechten Hand den Schuh blicke ich nachdenklich an meinem rechten Bein entlang auf den schmutzigen rechten Turnschuh, den ich auf den Boden gestellt habe.
Er sieht irgendwie komisch aus, passt so überhaupt nicht zu meinem rechten Fuß. Warum eigentlich nicht? Was ist an dem Schuh anders als an meinem Fuß?
Irgendetwas ist anders.

Natürlich, das ist es! Es ist ein linker Schuh, der da nicht zu meinem rechten Fuß passt!

Aber warum ist der linke Schuh schmutziger als der rechte, den ich in der Hand halte? Ich schieße meine Flanken und Tore mit dem rechten Fuß! Das kann nicht mein Schuh sein!
Jetzt weiß ich es definitiv.
Also hat mein Gefühl doch recht gehabt und ich bin auch nicht senil und vergesslich geworden. Ich kenn doch meine Schuhe!

Aber wem gehören dann die Turnschuhe, bei denen der linke Schuh schmutziger ist als der rechte?
Wer spielt Fußball, oder hat mit mir gespielt und schießt mit dem linken Fuß?

INGO!
Ingo, fährt es mir durch den Kopf!
Natürlich! Ingo schießt links!
Das sind Ingos Turnschuhe!

Ich sehe ihn deutlich vor mir. Ingo spielt und schlägt seine Bananenflanken, Pässe und Schlenzer mit dem linken Fuß. Wie oft hat er mich damit ausgetrickst
Das sind Ingos Turnschuhe.

Tränen laufen mir aus den Augen, ziehen langsam eine Furche über die trockene Haut und tropfen dann auf den Boden.
Es sind Ingos Schuhe!
Noch so, wie er sie nach dem letzten Spiel ausgezogen hat!
Genauso!
Noch mit dem Gras an der Sohle, als sei es erst gestern gewesen!

Mein Kopf sinkt auf die angezogenen Knie; ich kann den Blick nicht vom rechten Turnschuh wenden und weine leise vor mich hin. Gedanken ziehen mir durch den Kopf wie Nebelschwaden an einem Herbstmorgen. Der Schmerz rumort in meinem Inneren, fährt die Kehle rauf und runter.
Die linke Hand mit der Schuhbürste zittert Die andere Hand presst den Schuh liebevoll gegen meine Wange. Meine Gedanken eilen zurück in eine andere, glückliche Zeit, in der ich damals mit einer gedankenlosen Selbstverständlichkeit gelebt habe.
Ich sitze zusammengekauert am Boden und werde in den warmen Wellen der Erinnerung geschaukelt wie Treibgut im Wellengang des Meeres.Es ist ein schönes Gefühl.

Ich bin Ingo ganz nah. Ich kann ihn sehen, kann ihn riechen und kann ihn fühlen. Raum und Zeit verschwimmen, bis sie aufhören zu existieren. Ich sehe Ingo, wie er mit dem Ball über den Rasen auf mich zuläuft, dann den Kopf hebt und die Stelle sucht wo er mir den Ball hinflanken kann. Ich hebe den Arm, rufe „Tiggi“ und winke um mich bemerkbar zu machen. Ingo sieht mich; er sieht mich an und lächelt. Ja, lass mich diesen Moment festhalten. Lieber Gott mach, dass die Zeit jetzt stehen bleibt.
Genau so, so wie es jetzt ist. Greif ins Getriebe der Zeitmaschine und halt sie an.
Mach es einfach mir zuliebe. Jetzt komm schon Gott und mach! Komm und halt die Zeit an! Und wenn du das nicht kannst, dann halt doch einfach meine Zeit an.
Komm und mach mich tot. Jetzt. Ich bin soweit.

Und die Zeit bleibt stehen, genauso wie ich es mir gewünscht habe.
Kein Gefühl mehr für Raum und Zeit, kein Gefühl mehr für die Gegenwart, nur unendlich glücklich in der Vergangenheit. Wie lange ich so sitze und Blickkontakt mit Ingo habe weiß ich nicht.
Es ist mir auch egal.

Von irgendwo her kommen Geräusche. Erst weit entfernt, dann näher, aber wie durch Watte gedämpft. Unwirklich. Dann höre ich eine Stimme. Sie ruft. Sie ruft nach mir. Ich drehe den Kopf ein bisschen, damit ich besser hören kann, wie jemand der unwillig aus dem Schlaf erwacht.

Die Stimme ruft „Essen ist fertig“ und nach einer kurzen Stille noch mal „Du kannst Essen kommen und bring Getränke mit rauf“.
Ingo lächelt mir noch einmal zu, dann dreht er sich um und geht. Er verschwindet mitten auf der Wiese, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Ich höre Schritte auf der Treppe. Ich schrecke hoch als hätte man mich bei etwas Verbotenem erwischt und rufe: „Jaaa, ich komme, ich komme gleich“.

Ich liebe dich Ingo. Ich liebe dich. Tiggi ich liebe dich. Mein lieber Tiggi.
Pass auf dich auf, da wo du jetzt bist.
Ich dich auch „liebe tiger“.

Die Schritte entfernen sich wieder, ich höre wie einzelne Stufen knarren. Ich stehe auf, reibe mir die Augen trocken und wische über das Gesicht. Zurück im Alltag. Wieder einmal.

Mit den Getränkeflaschen unterm Arm steige ich die Treppe hinauf und gehe in die Küche. Dort steht Caro, mein zweite Frau. Sie schaut mich an und merkt sofort, dass mit mir etwas nicht stimmt. „Was ist?. Was ist mit dir?“, fragt sie leise, „du hast ganz rote Augen, ist dir nicht gut, was hast du gemacht?“.

Was soll ich ihr jetzt sagen? Wie soll ich das erklären. Soll ich sagen, dass das sicher von den chemischen Ausdünstungen des Schutzputzmittels kommt? Sie wüsste sofort, dass das nicht stimmt.

„Ingo?“, fragt sie.
Ich nicke stumm und lehne mich mit herunterhängenden Armen leicht an sie. Sie nimmt meine Hand, legt ihren Kopf an meine Brust und schweigt, während auf dem Herd das Essen leise vor sich hin köchelt.

Es ist gut im Leben eine Frau an seiner Seite zu haben.
Es ist noch besser eine Frau zu haben, die versteht ohne zu fragen.
Eine Frau, an die man sich anlehnen kann wenn einem danach zu Mute ist.
Auch wenn dabei auf dem Herd das Essen bis zur Unkenntlichkeit verkocht.

Caro, ich danke dir dafür.