Frankfurt, 23. Januar 2003

Danke, merci, thanks, grazie, grazias, takk

Viele Menschen, aus der ganzen Welt, aus aller Herren Länder, sind in den letzten Tagen hier gewesen und haben dich und mich besucht.

Alle sind sie bestürzt und traurig über das was geschehen ist.
Viele haben selbst erfahren müssen, wie es ist, wenn man ein Kind verliert.
Bei manchen ist das langsam geschehen, über viele Wochen und Monate, so wie wenn abends die Sonne untergeht.
Bei anderen von einer Sekunde auf die andere, unverhofft, wie das Erlöschen einer Kerze.
Es macht keinen Unterschied, denn in allen Fällen ist es danach dunkel.
Wir tappen vorsichtig durch dieses Dunkel, rufen leise zuerst „Hallo“, dann „wo bist du?“ und „wo seid ihr“?
Wir strecken die Arme aus und tasten nach einem Anhaltspunkt, nach einem Punkt wo wir uns festhalten können, der uns als Orientierung dient.
Manche finden diesen Punkt schnell, andere schwer, manche nie.
Aber alle kauern sich nach Einbruch der Dunkelheit hin, legen den Kopf in die Hände und weinen.

Wir sind ratlos, rastlos und wissen doch nicht wohin.
Wir sind allein in dieser Dunkelheit und in Gedanken kehren wir immer wieder zurück in die Zeit als es noch hell war. Und weil es um uns dunkel ist, sehen wir die Erinnerungen viel besser als andere.
Ich denke, man weint dabei nicht über das Vergangene, man weint nicht über die Erinnerungen; die tun nur weh.
Ich denke, man weint über die Zukunft, die man nicht mehr hat.
Man weint über das was nicht mehr sein kann, was nie mehr so sein wird wie es war.
Man weint über das „nie mehr“.

Und bei jedem Menschen ist es ein anderes „nie mehr“.
Aber allen tut es weh.
Es schmerzt, es brennt, es reißt, es zieht, es sticht, es würgt, es erstickt, es drückt, es erdrückt.
Dieses „nie mehr“ tut weh. Dieser Schmerz ist immer da. Mal stark, mal schwach.
Wir können ihn nicht vergessen, ignorieren oder unterdrücken.
Weil wir etwas von uns selbst verloren haben.
Weil uns etwas von uns fehlt.
Weil es uns ein Stück von uns selbst weggerissen hat.

Mir fällt dazu immer das Lied vom „guten Kameraden“ von Ludwig Uhland ein, mit dessen Text ich mich in der Schule so lange gequält habe. Der größte Teil des Textes ist in den vielen Jahren meines Lebens langsam geschmolzen, aber die folgenden Zeilen sind mir in Erinnerung geblieben:

Dich hat es weggerissen.
Du liegst zu meinen Füssen.
Als wärst ein Stück von mir.
....
Kann dir die Hand nicht geben,
bleib du im ew’gen Leben
mein guter Kamerad


Wir alle haben „gute Kameraden“ verloren und können ihnen die Hand nicht mehr geben. Deshalb strecken wir die Hände aus und tasten uns durch diese Dunkelheit auf der Suche nach einer anderen, warmen Hand. Manchmal nur für eine flüchtige Berührung, manchmal für einen festen, verstehenden Händedruck.
Manchmal ist es auch nur gut zu wissen, dass wir in dieser Dunkelheit nicht alleine sind.

Danke an euch alle.

Danke an alle, die den Mut haben ihre Hände auszustrecken.