Frankfurt am Main
Januar 2001

Ich habe meinen Sohn verloren!

Nein, nein, er ist mir nicht irgendwo abhanden gekommen als ich gerade mal nicht auf ihn aufgepasst habe.
Er ist mir auch nicht fortgelaufen, weil wir uns zerstritten oder nicht vertragen haben.
Nein, ich weiß nicht wo er jetzt ist. Ich kann es nur vermuten oder mir denken.
Nein, er wird nicht wieder kommen, da bin ich mir fast sicher.
Eher werde ich zu ihm gehen. Früher oder später.

Nein, ich habe ihn auch nicht im Krieg verloren, wie andere Väter ihre Söhne.
Ich habe meinen Sohn mitten im Frieden verloren.
Im Jahre des Herrn zweitausend.
Im Mai.
Genau am 10. Mai.
Fast genau morgens um acht Uhr.

Passiert ist es allerdings etwas früher.
Aber gegangen ist er so gegen acht Uhr an diesem sonnigen, schönen Tag im Mai.
So etwa ne‘ viertel Stunde hat er sich, nach mehr als neunzehn Jahren, Zeit gelassen um diese Welt wieder zu verlassen.
So jedenfalls steht es im Unfallbericht. Vielleicht ist er auch nur gestorben, weil er keine Lust mehr hatte, auf den Rettungshubschrauber zu warten.
Oder er war es leid, so nutzlos auf der Strasse herumzuliegen, so mitten in Dreck, Benzin und ausgelaufener Kühlflüssigkeit, die auf ihn heruntertropft.
Vielleicht ist es auch nur der Anblick seines geliebten Motorrads, der ihm das Herz bricht.
Es liegt neben ihm zerschmettert bis zum Tank, abgeknickt genau in der Mitte, als hätte jemand mit dem Maßband abgemessen.
Nur das Vorderrad ist heilgeblieben, weil es fast genau unter die Stossstange des Lastwagens passt,  der ihm die Vorfahrt nahm.
Eigentlich schuld ist ja nicht der Lastwagen, sondern der Fahrer, hoch oben über der Strasse, fast zwei Meter hoch über der Strasse, viel größer als ein Motorrad, auf dem ein neunzehnjähriger Junge sitzt, der auf dem Weg zur Schule ist.
Eigentlich ist er ja gar kein Junge mehr, eher schon ein junger Mann, so mit seinen knapp ein Meter achtzig.
Aber er ist auch noch ein Kind, das Kind einer Mutter und der Sohn eines Vaters.
Mein Sohn, mein einziger Sohn.
Mein einzigartiger Sohn.
Es gibt keinen anderen.
Es wird auch nie einen anderen geben, denn dazu bin ich schon zu alt.

Wenn Sie ein bisschen Zeit haben, dann will ich Ihnen gerne alles der Reihe nach erzählen. Mir  tut es sicher gut über alles zu sprechen und Sie sehen danach ihre eigene Welt vielleicht ein wenig mit anderen Augen.
Wie lange das dauern wird?
Ich weiß es nicht; bei mir hat es ein ganzes Leben lang gedauert. Bei meinem Sohn waren es nur neunzehn Jahre.
Woher soll ich wissen, wie lange ich brauchen werde um ein Leben zu erzählen?

Nach dem Tod meines Sohnes habe ich Monate gebraucht um meine Gedanken und Erinnerungen aufschreiben zu können.
Gedanken und Erinnerungen, die mich sonst zerrissen hätten. Gedanken, die  mich nachts aus dem Schlaf geholt haben, schweißgebadet, mit rasendem Puls. Hochgeschreckt in panischer Angst, den ausgestoßenen Schrei noch halb auf den Lippen hängend. Orientierungslos, nur langsam erkennend, dass alles ein Traum war.

Doch der Tod meines Sohnes ist kein Traum.
Er ist Wirklichkeit. Er ist wirklich geschehen.
Ich habe ihn erlebt, wie ich das Leben meines Sohnes erlebt habe.
Real. Echt. Wirklich.

Und ich erlebe ihn immer und immer wieder. In der Nacht, am Tag. Morgens, abends, mittags.
Manchmal kommt die Erinnerung langsam und schleichend, manchmal wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.

Ja, Sie haben recht. Es gibt sicher Leben, da sollte man besser nicht viele Worte drüber verlieren.
Sicher gibt es auch Leben, die werden nicht erzählt, obwohl sie einzigartig sind.  Es ist einfach keiner da, der es erzählt oder es interessiert sich keiner dafür.

Sicher gibt es in  jedem Leben viele Dinge, die nicht so wichtig sind, dass man sie erzählen muss. Dinge, die selbstverständlich sind, alltäglich, nicht erwähnenswert. Dinge, die halt in jedem Leben vorkommen.
Ja einverstanden,  solche Dinge lasse ich weg.
Dann gibt es bestimmt in jedem Leben einige Ereignisse, die niemand etwas angehen, die keiner wissen soll oder darf.
Da fällt Ihnen aus Ihrem Leben nichts ein? Hat es da nichts gegeben, das Sie heute anders oder gar nicht mehr machen würden?
Wirklich gar nichts, an das Sie nicht so gerne denken?
Also ich bin mir ziemlich sicher, dass auch Ihr Leben einige weniger schöne oder unangenehme Passagen aufweist.
Ach Sie meinen, solche Dinge sollte man weglassen, wenn sie nicht wichtig sind?
Na gut, einverstanden. Ich werde auch solche Sachen weglassen, sofern sie nicht wirklich wesentlich sind.
Das verspreche ich Ihnen.

Aber eines kann ich Ihnen nicht versprechen.
Ich kann Ihnen nicht die Wahrheit erzählen. Ich kann Ihnen nur meine Sicht der Wahrheit erzählen. So wie ich es empfinde und erlebe. So wie ich denke und fühle.
Ich kann Ihnen nur erzählen wie sich mein Leben geändert hat,  seit mein Sohn tot ist.
Denn aus den Leben anderer Menschen habe ich mich, bis auf wenige wichtige, zurückgezogen. Ich habe mich verändert und viele Freunde haben das nicht verstanden, oder konnten das nicht verstehen.
Manchmal hatte ich auch den Eindruck, sie sind mir aus dem Weg gegangen, weil sie nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten.

Wollen Sie wirklich die ganze Geschichte hören?
Wollen Sie wirklich einige Zeit Ihres endlichen Lebens mit mir verbringen?
Haben Sie wirklich nichts Besseres zu tun, als den Erinnerungen eines Vaters zuzuhören?
Haben Sie keine Familie, die auf Sie wartet?
Haben Sie keine Kinder?
Lieben Sie Ihre Kinder?
Dumme Frage, natürlich lieben Sie Ihre Kinder!
Welche Eltern würden auf diese Frage mit “Nein” antworten.
Hat sich Ihr Leben verändert, seit Ihre Kinder geboren wurden?
Natürlich hat sich Ihr Leben verändert! Nicht nur ein bisschen, sondern ganz gewaltig.

Vater oder Mutter sind Sie dadurch geworden. Und Ihre eigenen Eltern haben Sie zu Oma und Opa gemacht. Ihren Bruder zum Onkel und die Schwester zur Tante. Die Geburt Ihrer Kinder hat nicht nur Ihr Leben verändert, sondern auch das Leben vieler anderer Menschen.

So, und wenn Sie jetzt immer noch Zeit haben, dann lassen Sie uns ein ruhiges, schönes Plätzchen suchen, an dem ich Ihnen ungestört meine Geschichte, die Geschichte von meinem Sohn, erzählen kann.

Und danach lieben Sie Ihre Kinder anders, denn vielleicht haben Sie dann verstanden, wie sich Ihr Leben verändert wenn Sie Ihre Kinder verlieren.