Frankfurt, den 18. Juni 2003

Warum
In der Nacht hatte ich einen Traum.
Ich sah eine riesige, endlose Menge Menschen, alle in Bewegung wie eine Völkerwanderung, ein Treck, eine Flucht, eine Odyssee, ein Auszug aus Ägypten.
Sie bewegten sich von hier nach da, alle in die gleiche Richtung, wie ein riesiger, unerschöpflicher endloser Strom. Ich war einer von ihnen. Du warst einer von ihnen. Wir gingen lange nebeneinander. Wir waren ein Teil dieses Stroms.
Dann wurdest du gestoßen, rücksichtslos von hinten, du bist gestolpert, gefallen, lagst am Boden, es ging dir nicht gut.
Ich blieb stehen, kniete nieder, wollte dir helfen, wollte dir wieder aufhelfen.
Um uns strömten die Menschen weiter, nahmen kaum Notiz von uns. Unsere Freunde und Verwandten verhielten ihre Schritte, bildeten einen Kreis, eine Art Schutzwall, gaben uns kurz das Gefühl der Gemeinsamkeit.
Dann kam der Tod und hat dich aus meinen Armen genommen. Es ging so schnell; Zeit für einen Abschied hat uns der Tod nicht gelassen. Begraben musste ich dich am Rande des Weges, den wir zusammen gegangen waren. Wir haben es nicht bis ins Ziel geschafft.
Ich verstand nicht wohin du gegangen bist.
Ich verstand nicht, warum du einen anderen Weg gehen musstest.
Ich wusste nicht wo du bist und ich wusste nicht warum du gehen musstest.
WARUM? WARUM DU? WARUM JETZT?
Ratlos und unter all den vielen Menschen einsam blieb ich stehen.
Ich konnte nicht weitergehen, konnte dich nicht verlassen und zurücklassen.
Blieb still weinend und voller Schmerz an deinem Grab stehen, hatte keinen Grund weiterzugehen. Zögerte, schaute fragend und hilfesuchend in die Augen und Gesichter meiner Freunde

Freunde
Sie wichen meinem Blick aus, konnten mir nicht in die Augen sehen. Sie hatten keine Antwort auf meine stumme Frage. Sie blickten zu Boden oder einfach nur weg.
Sie wurden ungeduldig, weil ich mich nicht von deinem Grab fortbewegte. Manche winkten und forderten mich auf endlich weiterzugehen. Andere drehten sich einfach wortlos um und gingen fort. Einige wenige hielten mir die Hand hin, wollten mich stützen, führen und mitnehmen.
Aber ich sah keinen Sinn mehr darin weiterzugehen. Wo gingen wir denn eigentlich hin? Was war unser Ziel? Was wollten wir dort? Was war dort besser oder anders als hier? Was sollte ich dort ohne dich?
Ich stellte diese Fragen denen die stehen geblieben waren und auf mich warteten. Sie sahen mich zuerst erstaunt und dann ungläubig an. Sie machten den Mund auf und zu, wollten etwas sagen. Aber entweder wussten sie keine Erklärung oder ich konnte ihre Erklärungen nicht verstehen oder konnte ihre Worte nicht hören. Einer Diskussion wichen sie aus, traten sogar einen Schritt zurück um Distanz zwischen sich und mich zu bringen. Als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte und sie Angst hatten sich infizieren zu können.
Einer nach dem anderen gab auf, einige winkten noch zum Abschied, manche drehten sich nur stumm um und verschwanden in der vorbeiströmenden Menge, andere waren plötzlich verschwunden, von einem Moment auf den anderen, als hätten sie nur darauf gewartet sich in einem günstigen Moment verdrücken zu können
Ich schaute denen, die ich noch sehen konnte, lange nach bis sie am Horizont verschwanden. Manche sahen auch zurück, zögerten mal kurz, als ob sie überlegen würden zurückzukommen. Andere beschleunigten ihre Schritte, konnten gar nicht schnell genug wegkommen, wie um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Allein
Dann war ich ganz allein. Stand am Rand des Weges. Stand da neben deinem Grab und war alleine einsam.
Die Menschen die vorübergingen waren mir unbekannt. Auch für sie war ich ein Fremder. Ich war nicht in Bewegung wie sie, hatte keinen Grund mehr mich zu bewegen, war stehen geblieben, wo sich alle bewegten. Ich hatte mich verändert. Ich war anders als die Anderen geworden. Ich sah und spürte ihre neugierigen, manchmal verstohlenen, fragenden Blicke. Doch wenn ich versuchte in ihre Gesichter zu schauen, dann wanderten ihre Blicke weg von mir, voraus auf ihren Weg, voraus zum Horizont, wo irgendwo das ferne Ziel ihrer Wanderung war.
Ich hatte genügend Zeit mir die Menschen anzuschauen, den Blick über die Menge schweifen zu lassen und nach bekannten Gesichtern zu suchen. Bescheiden hielt ich mich an der Seite des Weges um die Wanderer nicht zu stören. Ich ging ihnen aus dem Weg und stand ihnen nicht im Weg.
So stand ich lange und dachte über mein Leben nach, über Dinge die mir einst wichtig gewesen waren, die ich für erstrebenswert gehalten hatte, die mir Freude gemacht hatten. Ich lebte in meinen Gedanken und habe mich in den Gedanken verloren.
Als nach langer Zeit ein Mensch stehen blieb, mich ansprach und fragte warum ich hier stehe und nicht weitergehe, da konnte ich nicht mehr antworten. Ich konnte nicht mehr sprechen. Ich hatte die Sprache verloren, konnte sie nicht mehr finden und war stumm geworden. Ich dachte „hilf mir, bleib hier bei mir, nimm dir Zeit, gib sie mir und höre zu, ich möchte dir eine Geschichte erzählen, meine Geschichte und seine Geschichte“, doch meine Gedanken konnten den fremden Menschen nicht erreichen. Schließlich wendete er sich ab und ging weiter. Sicher enttäuscht über mein Verhalten. Sicher enttäuscht über meine Undankbarkeit. „Komischer Vogel“, wird er sich wohl gedacht haben, „steht da rum wie bestellt und nicht abgeholt und wenn er gefragt wird ob man ihm helfen kann, dann gibt er noch nicht einmal eine Antwort. Wer weiß, was der so alles auf dem Kerbholz hat. Wer weiß was der alles angestellt hat.“

Erinnerung
Ich war einsam, starrte vor mich hin und verlief mich im Labyrinth meiner Gedanken und Erinnerungen. Irrte ziellos durch mein Leben und ging darin zurück bis in die Zeit als die Welt für uns beide noch in Ordnung war. Ich lebte in dieser Erinnerung und zerbrach mir den Kopf darüber was wir falsch gemacht hatten. Suchte nach dem Ereignis, das uns an den Rand des Weges geführt hatte. Suchte nach der Schuld, die wir auf uns oder ich auf mich geladen und deren gerechte Strafe uns nun ereilt hatte. Ich konnte sie nicht finden. Wir waren sicher nicht ohne Fehl und Tadel. Aber eine solche Schuld, die Anlass und Rechtfertigung für deinen frühen Tod hätte sein können, habe ich nicht gefunden.
Du hattest dir nichts zu schulden kommen lassen, du warst noch ohne Arg. Du warst noch so jung, hattest noch gar nicht richtig gelebt. Du warst noch ein Kind, ein Junge. Mein Junge, mein Sohn. Mein einziger Sohn. Es gab keinen anderen wie dich und es wird nie mehr einen geben wie dich.
Geblieben war mir nur der Schmerz und die Erinnerung an dich.

Leben ohne dich
Ich verspürte das Verlangen meine Gedanken aufzuschreiben, sie festzuhalten. Sie sehen und lesen zu können. Für mich. Gegen den Schmerz und das eigene Vergessen.
Zuerst waren es nur Bruchstücke, emotional aufgezeichnet. Vom Herzen über die Hand, ohne Nachdenken, direkt aufs Papier. Ohne Zusammenhänge, spontan, teilweise wirr, wild durch die Zeit und die Erinnerungen springend wie ein verzweifeltes Tier auf einer heißen Metallplatte auf der Suche nach einer Linderung seiner Schmerzen.
Dann schrieb ich für dich und an dich. Zur wehmütigen Erinnerung an meinen besten Freund. Worte, die ich vergessen hatte dir zu sagen. Gefühle, die ich versäumt hatte dir zu zeigen. Erlebnisse die uns einst wichtig waren, die wir gemeinsam gelebt und überlebt hatten.
Und nachts wenn die Menschen müde waren, sich zur Ruhe legten und Kraft sammelten um ihre Wanderung am nächsten Tag fortzusetzen, stand ich an deinem Grab, das Herz zerrissen vor Schmerz, stumm, gedankenverloren und wusste nicht weiter. Ich hatte dich begleitet, vom Beginn deines Lebens bis hierher, bis hierher an dein Grab. Hier war unser gemeinsamer Lebensweg zu Ende. Hier war dein Ende. Hier war unser Ende.
War hier auch mein Ende?
War das die Lösung?
War das die Erlösung?
Ich sah in die Gesichter der Menschen die täglich an mir vorübergingen und suchte eine Antwort auf diese Frage. Ich suchte nach einem Grund weiterleben zu können, suchte nach einem Sinn für mein Leben mit der schmerzlichen Erinnerung an dich.
Ich veränderte mich. Die Fröhlichkeit und die Sorglosigkeit waren mit dir ins Grab gegangen. Die Freude verschwand. Ich konnte nicht mehr lachen.

Menschen
Weil ich stand und bei deinem Grab blieb, gingen die Menschen an mir vorbei. So sah ich viele Menschen, nicht nur die, mit denen ich bis hierher gegangen war und die mich dann verlassen hatten, weil sie nicht warten wollten oder Angst vor meinen Fragen hatten.
Ich sah mir die Menschen genau an, viel genauer als ich sie mir jemals zuvor angesehen hatte. Versuchte ihnen in die Augen zu sehen, aber dort war nur Gleichgültigkeit. Ich sah ihren Egoismus, ihre Neigung zum Alltäglichen, ihre Furcht vor Problemen. Sah ihre Oberflächlichkeit, ihre Dummheit und ihre Gedankenlosigkeit.
Und ich sah einige wenige Menschen mit offenen, interessierten Augen. Menschen die standen wie ich, teils auf der anderen Seite des Weges, teils direkt neben mir. Ich sah auch Menschen die langsamer gingen, nicht hasteten und hektisch herumliefen wie alle anderen.
Menschen, deren Blick suchend war wie meiner.
Menschen, die die Endlichkeit unseres Daseins erfahren hatten.
Menschen, die durch Schmerz und Verlust verändert worden waren.
Menschen, die selbst erfahren hatten, Menschen die Erfahrung hatten.
Wir fanden uns mit den Gedanken, durch wortloses Verständigen und Verstehen. Ich spürte die Gleichheit ihrer Gedanken, die Ähnlichkeit des Schmerzes, die Duplizität der Schicksale.
Die Menge hielt Abstand zu ihnen, wie zu Aussätzigen oder Andersartigen. Diese Menschen mussten schon vorher da gewesen sein, doch ich hatte sie nicht bemerkt. Ich hatte sie nicht gesehen. Doch jetzt sah ich die Menschen mit anderen Augen.
Sie nahmen mich und dich in ihre Mitte auf und gaben mir Trost, Hoffnung, Liebe, Rat und Hilfe. Sie schenkten mir Aufmerksamkeit, hörten zu und verstanden, auch wenn mir die Stimme versagte und Worte alleine nicht mehr ausreichten um deinen Verlust zu beschreiben.
Sie gaben mir das Gefühl nicht alleine zu sein. Sie nahmen sich Zeit aus ihrem Leben und teilten sie mit mir. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, weil die Erinnerungen quälten und der Schmerz sich durch Herz und Kehle fraß, dann waren sie da und hatten Zeit für mich.

Danke
Ich habe sie nie gesehen, aber ich kenne ihre Geschichten und ihre Schicksale.
Ich habe nie mit ihnen gesprochen, aber ich kenne ihre Gedanken.
Und ich kenne ihre Toten. Ihre toten Kinder, ihre toten Töchter und Söhne, deren Gräber ich nachts besuche um Trost für mein eigenes Leiden zu finden.
Ich sehe die Spuren ihrer Tränen und spüre ihre Liebe zu den Kindern.
Dass es sie gibt und was sie tun, hilft mir.
Hilft mir leben.
Hilft mir weiterleben.

Meine Gedanken sind bei ihnen.

Danke, an die Mütter und Väter da draußen im weiten Netz.

www.leben-ohne-dich.de