Frankfurt am 6. Oktober 2003

Reinhard

Am 2. Oktober war wieder mal Dein Geburtstag.
Ich habe Dir, wie jedes Jahr eine Postkarte mit herzlichen Grüßen geschickt und Dir alles Gute gewünscht, obwohl ich Dich bis vor drei Jahren noch gar nicht kannte.
Gesehen habe ich Dich nur einmal, aber ich habe Dich dennoch kennengelernt.
Du hast Dich nie bedankt, aber trotzdem werde ich nicht aufhören Dir Grüße zu schicken, die aus meinem Herzen kommen.
Denn ich kann Dich nicht vergessen!

Du hast am 10. Mai 2000 mein Leben radikal verändert.
Du hast mir an diesem Tag das Liebste aus dem Herzen gerissen.
Du hast meinem Sohn Ingo das Leben genommen.
Du hast mich zum verwaisten Vater gemacht und meine Zukunft verändert.
Wir haben uns erst lange nach dem Unfall zum ersten Mal im Gerichtssaal gesehen.
Ich sah Dir in die Augen, sah die Angst darin und hielt es für Reue. Es hat mich unendlich viel Überwindung und innere Kraft gekostet, Dir zu sagen, dass ich Dir aus dem Geschehenen keine Vorwürfe mache.
Ich habe es wirklich ernst gemeint, denn ich wollte Deine Schuld nicht auch noch mit meinem Schmerz belasten.
Einen offenen, aktiven Umgang mit Deiner Schuld wollte ich Dir ermöglichen, meinen Frieden mit Dir machen und uns beiden eine Chance für ein Weiterleben geben.
Doch es war die Angst vor Strafe, es war die Angst um Dich, die Angst vor der Veränderung Deines Lebens, die ich in Deinen Augen sah. Und als die irdische Gerechtigkeit, mit einer kleinen richterlichen Schelte und großer Rücksichtsnahme auf Deine eigene Jugend, Dich in Dein junges Leben entließ, da hast du Deine Schuld nicht angenommen. Du hast sie schnell verdrängt, vergessen und Dich aus der Verantwortung gestohlen.

Keine Minute, keine Stunde der Erinnerung.
Kein Weg führte Dich je an Ingos Grab.
Keine Blume fiel dort je aus Deiner Hand.
Keine Träne rann Dir dort über die Wange.
Kein Wort der Reue kam über Deine Lippen.
Keinen Gedanken hast Du verschwendet.

Es war für Dich einfacher und leichter Ingo zu vergessen, als verantwortungsvoll mit Deiner Schuld umzugehen. Du warst zu feige und hast nicht begriffen, was Du getan hast. Du hast Deine Verantwortung nicht angenommen!
Und darum schicke ich Dir jedes Jahr Geburtstagsgrüße, die aus meinem Herzen kommen.
Dort wo der Schmerz über Ingos Tod brennt, würgt und reißt, wie am ersten Tag.
Solange, bis wir uns einst, irgendwo in einer anderen Welt begegnen werden und die dann ewig bleibende Furcht in Deinen Augen, mir endlich innere Ruhe geben wird.

Alles Gute zum Geburtstag Reinhard!