Frankfurt, am 14. Januar 2004

Ein Moment des Glücks

Gebannt starren meine Augen auf die Buchstaben deines Namens.
Das flackernde Licht der Kerzen zeichnet durch die frühe Dunkelheit des kalten Tages unstete Figuren auf die nasse Kälte deines Grabsteins.
Ich bin allein.
Es ist still, nur das leise Geräusch der zerplatzenden Wassertropfen auf dem Regenschirm begleitet mich.
Durch meinen Kopf ziehen die nebelartigen Fetzen wehmütiger Erinnerungen.
Flüchtig, unstet, kaum da und bewusst, schon wieder fort und verschwunden bewegen sich meine Gedanken torkelnd durch die Vergangenheit.
Sie war schön, das weiß ich, legt sich doch über ihre auch manchmal schweren Tage gnädig der leichte Schleier des Vergessens.
Keinen Tag, keine Stunde möchte ich missen. Jede einzelne würde mir fehlen. Sie sind Teil meines Lebens mit dir, das mich bis hierher geführt hat und mich jetzt ohne dich an deinem Grab stehen lässt.
Hier ging vor fast vier Jahren unser gemeinsamer Weg zu Ende.
Hier habe ich dich zum letzten Male gesehen.
Hier habe ich dich zum letzten Mal gespürt.
Hier habe ich dich zum letzten Male berührt.
Hier war der Ort unseres letzten Abschieds.
Ich kann es immer noch nicht verstehen.
Warum?
Sag es mir?
Keiner konnte es mir erklären, also sag du es mir.

Fragend starren meine Augen auf die schweigenden Buchstaben deines Namens und der Schmerz steigt brennend durch meine Kehle.
Mit einem heftigen, tief aus dem Innern kommenden Schluchzen ziehe ich den Kopf zwischen die Schultern. Den Stock des Regenschirms habe ich zwischen Hals und Schulter geklemmt und die Hände in den Jackentaschen versenkt, wo sie gedankenverloren mit den vielen verbrannten Streichhölzern spielen, denen das Anzünden der Kerzen im Wind das kurze Leben gekostet hat.
Kälte kriecht mir durch die Schuhsohlen an den Beinen hoch. Schon sehr lange stehe ich so, meine Füße auf der kalten Erde die deinen Sarg umgibt.
Mein Körper zieht sich zusammen wie ein Embryo, schrumpft und kriecht in sich zurück.
Ich möchte zu dir, möchte dich sehen, berühren, mit dir sprechen. Nur wenige Meter trennen uns voneinander, doch es ist die größte Distanz, die es für einen Menschen gibt.

Wieder wird mein suchender Blick durch das Licht der Kerzen eingefangen und auf deinen Namen gelenkt. Ich kann dich sehen, sehe in den flackernden Schatten dein vertrautes Gesicht, verschwimmend im salzigen Wasser meiner Augen.
Glücksgefühl strömt aus meinem Herzen und verbreitet wohlige Wärme in meinem Körper. Ich fühle mich plötzlich leicht, die Augenlider sinken herab und ich spüre die Augen zurückrollen und nach innen blicken. Leichter Schwindel lässt mich schwanken, doch ich habe keine Angst zu fallen.
Es ist schön. Einfach nur schön. So soll es bleiben. Für immer.
Hinter meinen geschlossenen Augen ziehen die warmen Farben der Erinnerung vorbei.
Bilder, Szenen, Worte, Gefühle, Glück, Zärtlichkeit, Fürsorge und Sorge.
Und Liebe, unendlich viel Liebe.
Geborgen. Zufrieden. Glücklich.
Glücklich im Unglück.
Ein andächtiger kleiner Moment des Glücks im grenzenlosen Schmerz.

Monoton tropft Wasser vom Regenschirm auf meine Schulter und schiebt sich zwischen meine Erinnerungen. Mir ist kalt und das ferne Bellen eines Hundes bedrängt mein Ohr.
Auf der Straße zum Friedhof nähert sich ein Auto. Ich kann durch die Dunkelheit das Brummen des Motors und das Platschen der Reifen in den Wasserlachen hören.

Das Glück ist dahin.
Verjagt, vertrieben, geflohen vor den lauten Geräuschen, die in unsere gemeinsame Stille dringen.
Ein tiefer seufzender Atemzug bringt mich zurück ins Leben.
Es ist Zeit Abschied zu nehmen.
Zitternd lege ich meine Hand auf den kalten Grabstein.
Es fällt mir immer schwer zu gehen.
Dieser Abschied, dieses Umdrehen und Weggehen fällt mir nicht leicht.
Auch nach vier Jahren noch nicht. Noch immer ist es mir, als würde ich dich alleine lassen, dich alleine zurücklassen, dich im Stich lassen.
Leise murmeln meine Lippen einen letzten Gruß, bevor der Kiefer sich verkrampft und die Schneidezähne sich in die Unterlippe graben, bis der Schmerz unerträglich wird.

Unerträglich laut beschwert sich knirschend der feine Kies unter dem langsamen, schweren Tritt meiner Schuhe.
Am Tor ein Abfalleimer mit verwelkten Rosen. Vor wenigen Tagen noch blühendes Zeichen einer einmaligen Liebe.
Ein letzter Blick zurück zum Grab, durch den warmen Schein der Kerzen in der Dunkelheit noch gut zu erkennen.
Leb wohl mein Freund, bis wir uns wiedersehen.
Ich dich liebetiger

Dann schließt sich quietschend das schwere Eisentor hinter mir.
Wieder allein.